Der menschliche Dämon

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2005
  • 3
  • New York: St. Martin’s Minotaur, 2003, Titel: 'The Fiend in Human', Seiten: 324, Originalsprache
  • München: Heyne, 2005, Seiten: 476, Übersetzt: Edith Walter
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2005

Der Würger und der Lügner

London 1852, ein Schmelztiegel unzähliger Menschen, die in der Millionenstadt meist mehr schlecht als recht ihr Leben fristen. Unter ihnen: Edmund Whitty, "Sonderberichterstatter” des "Falcon”, ein überarbeiteter, unterbezahlter, verschuldeter Zeilenschinder, der Tragödien, spektakuläre Unfälle und Verbrechen publizistisch ausschlachtet. Ein guter Journalist ist er durchaus, aber die ständige Jagd nach der nächsten Sensation hat ihn zermürbt. Den Katzenjammer betäubt er mit Alkohol und Drogen. Schuldeneintreiber jagen ihn - Whitty ist am Ende, obwohl er gerade einen der größten Erfolge seiner Laufbahn feiern durfte.

Lange hat der Frauenmörder "Chokee Bill” die finsteren Gassen der Slums unsicher gemacht. Seine Opfer pflegte er zu ersticken und zu verstümmeln. Das ist der Stoff, aus dem Schlagzeilen gemacht werden. Whitty hat sie geschrieben, dem Unhold sogar seinen Spitznamen gegeben und ihn berühmt gemacht. Jetzt hat man "Chokee Bill” gefasst. In der Todeszelle wartet er auf den Henker. Allerdings leugnet er hartnäckig der Serienmörder zu sein. Whitty besucht Bill - eigentlich William Ryan -, hört seine Geschichte und wird nachdenklich. Zwar glaubt er dem Mann nicht unbedingt, aber er braucht dringend eine neue Story. Außerdem meint er Anzeichen für eine bevorstehende Flucht Bills entdeckt zu haben.

Kein Pardon mit Spielverderbern

Lange muss er nicht warten. Nach einer spektakulären Flucht ist Ryan auf freiem Fuß. Whitty weiß, wohin es ihn treiben wird. Er hat inzwischen entdeckt, dass Ryan vor einigen Jahren in einen Skandal verwickelt war. Die schöne und lebenslustige Eliza Marlowe hatte sich auf eine Affäre mit dem gesellschaftlich weit unter ihr stehenden Mann eingelassen. Der Skandal zeichnete sie, aber er machte sie bekannt und ließ einen alten, reichen Lebemann um sie freien. Als dieser nur Wochen nach der Hochzeit starb, wurde Eliza vor Gericht gestellt, aber mangels Beweisen freigesprochen. Das Erbe enthielt man ihr freilich vor, so dass sie sich nun als Domina für reiche, gern adlige Herren mit masochistischen Neigungen verdingen muss.

Ryans Flucht bringt die Polizeibehörden in eine peinliche Lage. Under-Inspector Salmon von Scotland Yard, ein unerbittlicher Ermittler, hat zu Whittys Pech von dessen Interview mit "Chokee Bill” gehört und verdächtigt ihn nun, gemeinsame Sache mit dem Mörder zu machen. Pech für Whitty, dass in dunklen Londoner Gassen gerade jetzt wieder erdrosselte und verstümmelte Frauenleichen entdeckt werden. Er widersteht dem Druck und heftet sich auf Ryans Fersen. Was er dabei erfährt, bestätigt seinen Verdacht. Die Spur führt nun in höhere Kreise, und dort kennt man kein Pardon mit Spielverderbern, welche die Privilegien der "Gentlemen" - die Lustmord anscheinend einschließen - nicht gelten lassen wollen. Whitty wird vom Jäger zum Gejagten, aber er gibt nicht auf - darf nicht aufgeben, denn sonst ist er gesellschaftlich erledigt, was in London ein schlimmeres Schicksal als der Tod ist...

Höllenpfuhl & Haifischbecken: London historisch

Serienmord, des modernen Thrillers liebstes Kind; ein bisschen zu oft ist es allerdings inzwischen an die Öffentlichkeit getreten, die bekanntlich wankelmütig und deren Aufmerksamkeitsspanne begrenzt ist. Also wird der Serienmord an Orte und in Zeiten verlegt, wo die Kulisse für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgt. Auch hier machen viele Schriftsteller (oder Schreiberlinge) es sich schrecklich einfach und lassen Hannibal-Lecter-Klone ihr Unwesen in Vergangenheit und Zukunft treiben. Immer grässlicher werden die Morde, immer "raffinierter” die Täter, immer fanatischer die Jäger.

John MacLachlan Gray geht den anderen, den schwierigeren Weg. Er lässt sich ein auf das Abenteuer London. Unter seiner Feder wird die Stadt zur eigentlichen Hauptperson. 1850 liegt nur 150 Jahre in der Vergangenheit. Überraschend viel von dem, was unseren modernen Alltag bestimmt, war damals bereits bekannt oder wurde gerade erfunden. Das Zeitalter der Industrialisierung ermöglichte architektonische, technische und naturwissenschaftliche Entwicklungen, die den Zeitgenossen wie Zauberei anmuteten.

Der Vergleich wird mit Bedacht gewählt, denn dieses stolze London, diese hochzivilisierte Großstadt, die sich als Megalopolis mit den Städten der Jetztzeit messen kann, war andererseits noch immer ein Monument des Mittelalters, das Paradebeispiel dafür, was geschieht, wenn wenige Privilegierte alle Ressourcen für sich beanspruchen und die Ansprüche der breiten Bevölkerung mit Füßen treten: London ist 1852 ein vom ausgebeuteten, unterdrückten, vernachlässigten Lumpenproletariat bevölkerter Höllenpfuhl. Die Regierung unterstützt und schützt ausschließlich jene, die ihnen durch Wuchermieten und Betrügerlöhne ein menschenwürdiges Dasein verbieten. Sorgfältig schotten sich die Reichen und Mächtigen gegen das Elend ab, das sie selbst schaffen, ziehen hohe Zäune um ihre Prachtvillen, schaffen sich Gesetze, die das Unrecht legitimieren.

"Chokee Bill" ist das kleinste Problem

In einer solchen traurigen Welt, so Autor Grays Standpunkt, ist nicht "Chokee Bill” das eigentliche Übel. "The Fiend in Human” ist statt dessen der Mensch selbst. Bill ist nur ein Nachtschattengewächs, das im Dunkel der Ungerechtigkeit gedeiht und dem Zynismus die Krone aufsetzt: Die armen Bürger von London sind endgültig Freiwild für ihre "Herren” geworden.

Unter diesen Umständen hat das Establishment natürlich keinerlei Interesse daran, einen der ihren entlarvt zu sehen: Die Monster, das sind immer nur Angehörige der niederen Stände. Gray erzählt deshalb keine klassische Kriminalgeschichte, sondern einen Sozial-Thriller: Die Hetzjagd gilt nicht "Chokee Bill”, sondern dem Mann, der ihn fassen will, weil er unangenehme Wahrheiten aufzurühren droht. Damit verkehrt der Verfasser ironisch den typischen Krimiplot in sein Gegenteil und kreiert eine vielschichtige, nachdenklich stimmende, an Überraschungen reiche Handlung.

Mit anderthalb Beinen im Grab

Die Abkehr von bewährten, aber ermüdenden Krimiklischees setzt sich in der Figurenzeichnung fort. Selten gab es einen kümmerlicheren "Helden” als Edmund Whitty. Er strampelt wie wild, um in einer Welt ohne soziales Netz den Kopf über Wasser zu halten. Gleichzeitig nimmt sein Alkohol- und Drogenkonsum immer stärker zu, weil er den daraus resultierenden Druck nicht mehr erträgt. Ein Teufelskreis ist in Gang gekommen, der ihm ermöglicht, aus dem System auszubrechen. Dafür zahlt Whitty einen hohen Preis, aber zum ersten Mal in seinem Leben ist er wirklich ein Journalist, der nach der Wahrheit sucht, statt sie als Instrument für den eigenen kläglichen Wohlstand zu missbrauchen.

"Chokee Bill” ist das perfekte Produkt seines Umfelds. Moralisch ist er durch und durch verkommen, dabei aber ehrlich: Er weiß um seine Verbrechen und verdrängt sie nicht wie seine Standesgenossen. Bill heuchelt nicht einmal Anteilnahme und Interesse an seinen Mitmenschen, er nutzt sie aus, belügt sie, ermordet sie. London ist für ihn der schönste Ort der Welt - und man versteht ihn. Autor Gray hat hier einen bemerkenswerten Bösewicht geschaffen: keinen Vorgänger des theatralischen Jack the Ripper, sondern einen Menschen, der hemmungslos böse ist, weil ihm seine Gegenwart die Möglichkeit gewährt, seinen dunklen Trieben ungestraft nachzugeben.

Ansonsten handeln Grays Figuren sämtlich nach dem Grundsatz: Niemand schert sich um dich, also nimm' dir, was du kriegen kannst, und zertrete diejenigen, die dir in die Quere kommen. Mitleid, Hoffnung, Menschenwürde: In Grays London sind dies Fremdworte, die lächerlich wirken angesichts der Realität. Idealisten gibt es zwar, doch sie werden für ihre Narretei doppelt vom Leben gestraft. Die unteren Schichten vegetieren und sterben wie Vieh, die oberen Schichten fesseln sich selbst in einem Gespinst absurder gesellschaftlicher Regeln und Vorschriften. Als Leser hat man weder mit den einen noch mit den anderen Mitleid. Gray treibt es uns gründlich aus, zumal es die Betroffenen selbst gar nicht verstehen würden: Der Verfasser verfügt über das seltene Talent, den Alltag einer vergangenen Ära glaubhaft aufleben zu lassen. Die Reichen, die Armen, die Frauen, die Herrschenden und die Geknechteten - Grays London ist für sie die selbstverständliche Realität; eine Alternative können sie sich gar nicht vorstellen. Hat sich dies eigentlich geändert?

Der menschliche Dämon

John MacLachlan Gray, Heyne

Der menschliche Dämon

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