Nackt ist die beste Maske
- Desch
- Erschienen: Januar 1961
- 1
- New York: Permabooks, 1958, Titel: 'Lady Killer', Originalsprache
- Frankfurt am Main; Berlin; Wien: Ullstein, 1975, Seiten: 126, Übersetzt: Rosmarie & Georg Kahn-Ackermann
- München; Wien; Basel: Desch, 1961, Titel: 'Der anonyme Brief', Seiten: 170, Übersetzt: Rosmarie & Georg Kahn-Ackermann
Spannender Countdown eines angekündigten Mordes
"Ich will die Lady heute Abend um 8 Uhr umbringen. Tun Sie was dagegen, wenn Sie können!"
Hochsommer in Isola, der 8-Millionen-Stadt, die irgendwie an New York erinnert. Es ist heiß, Abkühlung nicht in Sicht. Sogar die braven Bürger drehen allmählich durch, fallen tot um oder übereinander her. Im 87. Polizeirevier schmachten die chronisch überlasteten Beamten. Bei diesem Wetter gesellen sich zu den üblichen Strolchen die gefürchteten Spinner mit ihren seltsamen, oft genug mörderischen Einfällen. Einer ließ der Polizei die eingangs zitierte Nachricht zukommen.
Handelt es sich gar nicht um einen Spinner? Cotton Hawes und Steve Carella sind skeptisch. Sie halten es für durchaus möglich dass ein irrer Mörder hier die Polizei zu einem Wettbewerb herausfordert. Oder will er etwa erwischt werden? Lieber auf Nummer Sicher gehen, so die Beamten, bloß: Welche Konsequenzen hat das für diesen Fall?
Den einzigen Hinweis auf das mögliche Mordopfer stellt besagte Nachricht dar. Wer ist die "Lady”, der es in knapp zwölf Stunden an den Kragen gehen soll? Der Täter hat die Identität seines Opfers mit perfider Schlauheit chiffriert. Aber er darf sich nicht gar zu sicher fühlen: Die Ermittlungsmaschinerie der Kriminalpolizei läuft an - und sie wird von Profis in Schwung gebracht! Im Archiv wird nach der "Lady” geforscht. Auf den Straßen halten Streifenpolizisten Augen und Ohren auf. Spitzel werden befragt. Die Suche zeitigt durchaus Ergebnisse. Man rückt dem Täter näher und wird ihn erwischen, wäre da nur nicht der Zeitfaktor: Die Stunden verfliegen, und während in den glutheißen Straßen Carella und seine Kollegen zunehmend verzweifelt viel zu viele Menschen befragen müssen, lädt der Briefschreiber bereits seine Pistole, die er Punkt 20 Uhr auf die "Lady” zu richten gedenkt ...
Jagd nach dem Mörder im Heuhaufen
Ein Mann will morden, vielleicht möchte er aber vorher erwischt und an seiner Tat gehindert werden; die Ankündigung seines Anschlags ist der einzige Hinweis für die Polizei: Das ist die Ausgangssituation, aus der Ed McBain einen ganzen Roman entstehen lässt. Mehr braucht es für diesen Vollprofi der Unterhaltungsliteratur auch nicht. Er liefert seinen Figuren die dürren "Fakten” und beobachtet sie dann bei ihrer Arbeit. Die sind ihm genau so geläufig, wie es für den vorgesehenen Zweck - die Niederschrift dieses Romans - erforderlich ist. (Man nennt das "Recherche”; vor allem für viele heute gefeierte Kriminal-”Schriftsteller” offenkundig ein Fremdwort.)
Ist das originell? Kann das fesseln? Unbedingt, denn McBains Isola bietet eine unwiderstehliche Kulisse, die der Verfasser mit wunderbaren Darstellern bevölkert. Da fällt es überhaupt nicht negativ auf, dass die Geschichte von keinem Kapitalverbrechen handelt - das gilt es statt dessen zu verhindern. Wie McBain es schildert - als ununterbrochene Kette unermüdlicher Ermittlungen, die immer wieder ins Leere laufen, neu ansetzen, sich von einem Indiz zum nächsten hangeln und dabei der Lösung immer näher kommen, während sich das Tempo stetig steigert -, verhindert es zuverlässig, dass der Leser dieses Buch aus der Hand legt.
Ein für McBain nicht unüblicher Kniff kommt auch in diesem Roman zum Einsatz. Der Verfasser beschreibt uns nicht nur den Drohbrief, seine Untersuchung auf Fingerabdrücke, die Erstellung einer Phantomzeichnung, sondern zeigt uns auch jeweils das Ergebnis im Bild. In diesen Momenten schauen wir den Beamten quasi über die Schultern. Es fügt sich zu den vielen positiven Eindrücken, die diese Lektüre hinterlässt.
Überforderte Helden des Polizeialltags
Arbeit ist Arbeit, sie ist zu erledigen. Bereitet dies Vergnügen, ist es gut, aber sein muss das nicht: Es ist eine erfrischend realistische Sicht, mit der Ed McBain den leicht nachvollziehbaren Alltag der Polizisten des 87. Reviers schildert. Sie sind permanent überarbeitet, unterbezahlt, hausen schlecht ausgerüstet in ihrem von geschnappten Kleinkriminellen, Randalierern und renitenten Störenfrieden überlaufenen Dienstgebäude und können vom Bürger, den sie doch schützen sollen, eher mit Kritik als Lob rechnen.
Aber sie bleiben am Ball, denn sie sind Profis. Verfasser McBain schafft seinen Helden geschickt ihren Nimbus, indem er sie nie aufdringlich verherrlicht, sondern als zynische Idealisten der grau(sam)en Gegenwart ihrem Job nachgehen lässt. Das funktioniert außerordentlich gut, zumal McBain seine Figurenzeichnung weiter verfeinert: Steve Carella, Cotton Hawes, Meyer Meyer und die anderen Beamten sind nicht frei von persönlichen Problemen und Schwächen. Sie irren sich oder müssen sie den Kopf für nicht verschuldete Fehler hinhalten.
Solche Ambivalenz klingt für den Leser von heute selbstverständlich, aber wir müssen hier bedenken, dass McBain das "87. Revier” im Jahre 1956 öffnete. Damals und noch lange später war es durchaus nicht üblich, "das Gesetz” als Instrument zu sehen, das von durchaus fehlbaren Menschen zur Funktion gebracht wird. Dreist wurde statt dessen das Loblied vom unfehlbaren Ritter in blauer Uniformrüstung gesungen.
Die Realität sah schon damals anders aus. McBain scheut sich nicht, die Grauzone zwischen Gesetz und Verbrechen zu betreten. Was beispielsweise auf Isolas "Via de Putas”, der "Straße der Huren”, vor sich geht, ist der Polizei durchaus bekannt. Prostitution ist verboten, aber dieses Verbot ist faktisch nicht durchsetzbar. Also verhält sich die Rotlicht-Szene möglichst ruhig, und die Polizei ignoriert, was hier vorgeht.
Sie hält sogar die Hand auf. McBain schildern ohne Beschönigung die Korruption des Polizeiapparates. Ganz offen versuchen sich auf dem 87. Revier gut betuchte Verhaftete frei zu kaufen. McBains Hauptfiguren sind selbstverständlich "sauber”. (Noch treibt "Fat Ollie” Weeks hier nicht sein Unwesen ...) Aber Carella & Co. kennen die Fakten und halten den Mund, auch wenn sie selbst nicht bestechlich sind: So erfordert es der interne Polizei-Kodex, an den es sich zu halten gilt.
Isola Bürgerschaft ist ansonsten ein Querschnitt durch die (US-amerikanische) Großstadtgesellschaft. Wo acht Millionen Menschen auf engem Raum zusammenleben müssen, gedeiht die Harmonie nur kümmerlich. Die Männer vom 87ten stoßen jedenfalls überall auf unhöfliche, störrische, bestenfalls spöttische Zeitgenossen. Sie stecken aber nicht nur ein, sondern teilen auch tüchtig aus, was von McBain mit knochentrockenem Humor in Szene gesetzt wird.
Ed McBain, Desch
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