Hell's Kitchen

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1993
  • 5
  • New York: Mysterious Press, 1989, Titel: 'Sea of Green', Seiten: 295, Originalsprache
  • München: Heyne, 1993, Seiten: 381
  • München; Zürich: Piper, 1998, Seiten: 381
Hell's Kitchen
Hell's Kitchen
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Matthias Kühn
95°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2005

Meilenstein des harten Krimis – ein anarchisches Debüt, das sich gegen schnelles Lesen wehrt.

Alle nennen ihn Hock. Hock, das ist Neil Hockaday von der Street Crime Unit Manhattan, kurz SCUM. "Scum" heißt Abschaum, und da liegt schon die erste Fährte auf dem lohnenswerten Weg zu einem wunderbar poetischen, düsteren und harten Kosmos.

Es ist der Weg in eine fremde Welt – und auch in eine fremde Zeit, denn Hell’s Kitchen erschien auf Deutsch erstmals 1993. Das war die Zeit, in der skrupellose Immobilienhaie in historischen Dimensionen ihrer Habgier nachgehen konnten, als in US-amerikanischen Großstädten ganze Stadtviertel weg planiert wurden und sich kaum jemand darum scherte. Die Reagan-Politik hatte die Armen noch stärker geschwächt und Leuten wie Donald Trump Aufwind verschafft. Hock schert sich darum. Er kommt aus dem Viertel und zieht, frisch geschieden, wieder mitten hinein:

 

"Da war ich also wieder. Da war ich, startete einen neuen Versuch mit einem alten Leben; frisch eingezogen in drei zugige Zimmer eines schäbigen, alten Hauses ohne Fahrstuhl in dem ausgelaugten Teil der Stadt, wo ich mit der Erfahrung aufgewachsen war, dass regelmäßige Mahlzeiten echte Errungenschaften und sich vollzulaufen zu lassen einen absoluten Sieg bedeuten."

 

So beginnt, nach einem Prolog, das erste Kapitel. Da weiß man als Leser sofort: Achtung! Keine Distanz! In diesem Buch wird es kein sauberes Dahinplätschern von durchdachter Polizeiarbeit geben, kein analytisches Beobachten von außen; hier geht es an die Substanz. Die erbärmliche Welt ist echt, ohne die comichafte Ironie, die viele Hard-boiled-Krimis so leicht konsumierbar macht.

Der Manhattaner Bezirk Hell’s Kitchen, der seit Jahrzehnten offiziell Clinton oder Midtown West heißt, ist zur Zeit des Romans ein heruntergekommener Stadtteil. Gerade jetzt verändert sich das Viertel komplett: Aus einer rauen Gegend, in denen Bandenkriege an der Tagesordnung waren – die "West Side Story", Mutter aller Bandenkampfwerke, spielt hier! –, wurde durch korrupte Politiker und radikale Makler eine schnieke Gegend, die als aufstrebendes, sicheres und attraktives Viertel gilt. Clinton. Nicht Hell’s Kitchen, natürlich.

Zu den Zeiten des Romans war das noch anders. Da konnten sich die Ärmeren das Viertel noch leisten, die Mieten waren einigermaßen erträglich. Im Roman schlagen sich die Menschen des Viertels irgendwie durch: Huren, Taschendiebe, Ladenbetreiber, Kellnerinnen, Barkeeper und Arbeitslose. So richtig in Teufels Küche aber leben die unzähligen Obdachlosen und Junkies, die in einem grausigen Canyon weit unter der Stadt hoffnungslos vor sich hin vegetieren. Im Dschungel, einer nahezu mythischen Unterwelt.

Dass aus der Gegend mal was werden könnte, weiß Daniel Prescott; er weiß auch, dass sich hier sehr viel Geld verdienen lässt, wenn man hemmungslos, gnadenlos, mitleidslos, bedenkenlos und was-sonst-los vorgeht. Prescott ist ein wahrlich obszöner Tycoon, der aus einem Wolkenkratzerschloss heraus operiert – kaum verdeckt Donald Trump. Der nicht genug zu lobende Übersetzer Jürgen Bürger schreibt in seinen sinnvollen Anmerkungen denn auch ausführlich über den wahren Trump und schließt mit der Bemerkung ab: "Das Urteil, ob Ähnlichkeiten oder Parallelen zwischen dem fiktiven Daniel Prescott und dem realen Donald Trump bestehen, bleibt dem Leser überlassen." Das ist eine glatte Lüge.

Leute wie Prescott sorgen dafür, das die Zahl der Kaputten im Dschungel ständig wächst, dass alles noch hoffnungsloser wird. Zwischen diesen Extremwelten pendelt Hock hin und her. Er geht zu Fuß, und er erkennt: Nur wer die Geschichte des Viertels kennt, weiß, warum die Menschen in der Gegenwart sich so benehmen, wie sie es tun. Es ist keine Sekunde ein Geheimnis, auf welcher Seite Hock steht. Dabei geht es durchaus sehr politisch zu:

 

Angelo schlug auf ein Zeitungsfoto von George Bush ein und sagte zu jemandem namens Flaherty am anderen Ende der Theke: "Du meinst, dieser Bursche hier wäre unheimlich? Warte nur, bis du die Delegierten auf seinem Nominierungskonvent siehst – pensionierte Nazis, Irre, die an Hämorrhoiden leiden, perverse Fernsehevangelisten, Gauner, die Pyramiden verkaufen wollen, junge Börsenmakler."

 

Und nur ein paar Zeilen weiter meldet sich Hock selbst zu Wort:

 

Ich hob mein Glas und meinte: "Auf die Politik in den U.S. of A. – auf die hohe Kunst, Stimmen von den Armen und Geld von den Reichen zu kriegen, indem man verspricht, die einen vor den anderen zu schützen.

 

Natürlich gibt es auch einen Fall – der führt Hock in den Dschungel zehn Meter unter Straßenniveau, eine stillgelegte unterirdische Bahntrasse. Der Fall: Ein "Jesus-Freak aus dem Radio" wird bedroht, Father Love, der mit üblen, wenn auch plumpen Methoden den Armen das wenige Geld aus der Tasche zieht. Aber in der Kollekte sammeln sich nicht nur Dollars, sondern auch Morddrohungen. Hock wird von seinem Vorgesetzten auf den Fall angesetzt, von Inspector Tomassino Neglio – einem "Mann der Akten und Memoranden und Mittagessen im Rathaus und feinen Cocktailpartys und Mondscheindiners auf Yachten, deren Gastgeber jene Leute sind, denen New York gehört, und die von einigen anderen Leuten besucht werden, die meinen, die Stadt schon allein wegen der Tatsache zu leiten, dass sie genau zu diesem Zweck gewählt wurden."

Richtig: Einen solchen Satz muss man zweimal lesen. Nichts für Leute, die Wortschatz und Satzbau gängiger Bestseller-Krimis gewöhnt sind.

Hock stolpert über mehrere Tote. Buddy-O, der Freund, der ihm seine Wohnung besorgte und nebenbei als Informant dient, wird in der Nachbarwohnung erwürgt; in seiner eigenen Klauenfuß-Badewanne findet Hock den Mieteintreiber Howie Griffiths tot auf, bekleidet einzig mit einem Eispickel. Buddy-O hatte ihm noch von einem Schwarzen erzählt, der durchs Viertel laufe und einen Auftragskiller suche. Selbstverständlich hängen alle diese Fälle zusammen – aber wie?

Hilfreiche Aufschlüsse erhält Hock von einem Charakter von geradezu homerischer Kategorie: Der "ehrenhafte Dieb" Lionel, der "Holy Redeemer", ist der König des Dschungels und führt Hock ein in die Unterwelt, wo ihn weitere unvergessliche Figuren erwarten. Echte Gestalten, keine Statisten – dafür sorgen auch überraschende Familienzusammenführungen. Der Unterwelt-Philosoph Lionel erklärt Hock nicht nur Details, die ihn in voranbringen, er erklärt ihm auch das Prinzip der "angemessenen Marktmiete":

 

"Man setzt einfach ein Wolfsrudel Crackheads oder Nutten oder die ganz normalen kreischenden New Yorker Psychos in eine Wohnung, die in einem Haus frei geworden ist, das im Wesentlichen von ganz normalen Mietern bewohnt wird. Und dann ziehen diese Spießer aus, die nur versuchen, ihre Kids halbwegs anständig großzuziehen, und vielleicht glauben, sie hätten ein Recht darauf, nach Hause zu kommen, nachdem sie sich den ganzen Tag den Arsch abgearbeitet haben, und eine Büchse Bier aufzureißen und in ihren Unterhosen rumzusitzen, ohne Angst haben zu müssen, durch Schüsse draußen auf dem Flur oder irgendwas anderes eine Scheißangst eingejagt zu bekommen ..."

 

Die Folge: Die Spießer ziehen aus und machen Platz für überteuerte Wohnungen für Neureiche. Lionels Ausführungen bringen Hock in der dichtmaschigen Erzählung weiter, sie bereiten das Finale vor – und das ist tatsächlich furios und überraschend.

Hell’s Kitchen ist ein Meisterwerk der akribischen Beobachtung, keine hektische Kriminalliteratur, sondern wütend, dunkel und beklemmend. Dabei passiert viel, durchaus auch actiongeladen, aber im Vordergrund steht immer, dass Hock die Zusammenhänge einer komplexen Struktur zu erkennen hat, die weit in der Vergangenheit verankert ist. Es ist nicht zuletzt die Mischung aus hochgradiger Ernsthaftigkeit und mitreißendem Humor, die Adcocks atmosphärisch dichtes Buch so herausragend macht.

Zudem verfügt Hell’s Kitchen über einen kenntnisreich ausgesuchten Soundtrack. Hank Williams steht neben Ray Charles, schon im Prolog singt Billie Holiday. Songs aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren bevölkern das Buch, manchmal nur durch eine Textzeile belegt. Zuhören lohnt sich. Und das Lesen, natürlich.

Hell's Kitchen

Thomas Adcock, Heyne

Hell's Kitchen

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