Tod in Lissabon
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2002
- 24
- London: HarperCollins, 1999, Titel: 'A Small Death in Lisbon', Originalsprache
- München: Goldmann, 2002, Seiten: 575, Übersetzt: Kristian Lutze
- New York: Harcourt, 2000, Originalsprache
- München: Goldmann, 2005, Seiten: 575
- München: Bertelsmann, 2006, Seiten: 572
Ein guter Roman mit Stärken in Stil, Charakteren und Geschichte
Eine Geschichtsstunde der anderen Art erwartet die Leser von Robert Wilsons Tod in Lissabon. Am Strand eines Vororts von Lissabon wird die Leiche eines jugendlichen Mädchens gefunden. Tod durch Erwürgen . Was könnte dieser Mord mit den Geschäften der Nazis im Portugal der frühen 40er Jahre zu tun haben. Robert Wilson versteht es, zwei sehr weit auseinander liegende Handlungsstränge zu einem fulminanten Finale zusammen zu führen.
Zum einen erzählt er die Geschichte des deutschen SS-Mannes Klaus Felsen, der für die Nazis in Portugal das Metall Wolfram aufkaufen soll. Problem: die größten Minen Europas befinden sich unter Kontrolle der Alliierten. Bald gründet Felsen mit einem anderen SS-Mann und seinem skrupellosen portugiesischen Komplizen Joaquim Abrantes eine Bank, über die das Nazi-Gold nach Portugal gebracht wird. Nach Ende des Krieges lebt Felsen im sonnigen Portugal viele Jahre ein sorgenfreies Leben.
Ze Coelho und Assistent Carlos ermitteln
Der andere Erzählstrang handelt von den Ermittlungen des Kommissars Ze Coelho und seines jungen Assistenten Carlos. Das tote Mädchen, 15-jährige Tochter eines reichen Anwalts, scheint vor der Ermordung vergewaltigt worden zu sein. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass sie schon sehr früh ein reges Sexualleben führte und regelmäßig mit ihren Freiern eine Pension aufsuchte. Mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen sieht sie dann auch nicht gerade wie die typische Portugiesin aus.
Eigentlich schon bevor man mit dem lesen beginnt, fragt man sich, wie zwei derart unterschiedliche Handlungen zusammen geführt werden sollen. Wilson braucht lange, aber nach rund zwei Dritteln des Buches schafft er es schließlich, dem Leser eine Antwort darauf zu geben. Bis dahin laufen zwei getrennte Geschichten ab: Zum einen die durchaus interessante Aufarbeitung von Nazi- und Geheimdiensttätigkeiten in Portugal, die zwar keinen Anspruch auf Authentizität erheben. Zum anderen die Schilderung der Ermittlungen am Mordfall der Teenagerin aus der Sicht Kommissars Ze Coelho, die zwar nicht uninteressant beschrieben sind, aber weniger fesselnd bleiben. Immer vier Kapitel im Wechsel.
Sex sells - eine Frage des Genres?
Sex sells? Vielleicht ein Motto, unter dem Robert Wilson diesen Roman geschrieben hat. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft die im Roman handelnden Personen miteinander Sex haben, ich habe mir auch nicht merken können, welche Praktiken sie dabei ausübten. Die Vermutung nach dem ersten Kapitel, dass ein paar deutsche Gene durch außerehelichen Beischlaf bei dem jungen Mordopfer gelandet sind, bewahrheitet sich später schließlich, überrascht zu diesem Zeitpunkt dann aber schon lange nicht mehr. Bleibt damit als Aussage stehen, dass Triebhaftigkeit auch eine Sache der Gene ist?
Es soll kein falscher Eindruck entstehen, Tod in Lissabon ist ein flüssig erzählter und gut lesbarer Roman, spannend und interessant. Nur stellt sich im Nachhinein die Frage, warum der Tod der Teenagerin, die mit ihren Freiern ins Bett steigt, um sich Partydrogen leisten zu können, mit den Nazimachenschaften verbunden werden musste. Die Brücke, die Wilson anbietet ist letztlich nicht mehr als ein schmaler Steg. Gerade die ausführliche Schilderung der Situation in Portugal in den Kriegsjahren (Flüchtlinge, Visumprobleme, Geheimdienste) sowie im fernen Berlin, haben für die Fortentwicklung der Geschichte keinen nennbaren Mehrwert.
Zu den Figuren der Handlung: stärkster Charakter ist Kommissar Ze Coelho, aus dessen Perspektive ein Ich-Erzähler den Teil der Geschichte schildert, der in den 1990er Jahren spielt. Eine Figur mit Potential, wenngleich sie in kleinen Zügen an andere Ermittler der heutigen Krimiszene erinnert. Alleinstehender Vater einer Tochter, eigenbrötlerisch und kontaktarm. Der nur ein Jahr zurückliegende Unfalltod traf ihn schwer, aber der Leser lernt ihn erst an einem Zeitpunkt kennen, wo Veränderung in sein Leben Einzug hält. Zusammen mit seiner Tochter Olivia mag man ihm den berühmten Tritt in den Allerwertesten geben, sich wieder dem Leben zu stellen. Olivia hat sicherlich die bedeutsamste Nebenrolle, erhält Coelho durch sie schließlich Einblick in die Sichtweise der jungen Generation und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Irgendwie erscheint sie aber ein wenig übermenschlich, zu reif für eine 16jährige, die Modedesign studieren will und Krawatten für ihren Vater und Väter ihrer Freundinnen fertigt. Coelhos junger Kollege Carlos Pinto vermittelt einen sehr begabten Eindruck, eckt aber mit seiner direkten, ungebremsten Art sehr oft bei Kollegen und Freunden an. Beide Ermittler können hohe Sympathiewerte erreichen und wecken Lust, bald mehr von ihnen zu lesen.
Dem Roman hätten 200 Seiten weniger gut getan
Auch die Charaktere der Verbrecher sind gut umschrieben. In einem gleichen sie sich: so rücksichtslos sie im Geschäftsleben vorgehen, so ist auch ihre Wertschätzung des weiblichen Geschlechts äußerst gering. Sex ist Gewalt. Liebe taucht in diesem Roman nur selten auf. Dennoch sind sie Höchst unterschiedlich, der eine ein hinterhältiger Feigling, der andere ein impulsiver Gewalttätiger, der nächste willenloser Spielball eines politischen Systems oder ein rücksichtsloser Egoist.
Ein guter Roman mit Stärken in Stil, Charakteren und Geschichte. Schwächen sind in der doch zu einfach geratenen Aufklärung des Mordfalls (Stichwort Krawatte), einem befremdenden Motiv des tatsächlichen Mörders und der recht oberflächlichen Verbindung beider Handlungsstränge zu sehen. Eine Leseempfehlung allemal, besonders für Leser, die die Schönheit Lissabons bereits kennen und schätzen gelernt haben. Aber mag die Geschichtsstunde über Wolframkäufe in Nazideutschland auch noch so interessant gewesen sein, der Roman hätte auch gut und gerne 200 Seiten weniger haben können.
Robert Wilson, Goldmann
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