Die Wälder am Fluss
- DuMont
- Erschienen: Januar 2004
- 12
- London: Gollancz, 2000, Originalsprache
- Köln: DuMont, 2004, Seiten: 367, Übersetzt: Mariana Leky
- Köln: Delta Music, 2005, Seiten: 5, Übersetzt: Tratnik, Josef
- Köln: DuMont, 2011, Seiten: 365
Tom Sawyer trifft Jack the Ripper
In den frühen 1930er Jahren treibt in der texanischen Provinz ein Serienmörder sein Unwesen. Ein idealistischer aber unzureichend ausgebildeter Polizist bemüht sich um Aufklärung. Weil die Opfer nur "Nigger" sind, missfällt dies den selbst ernannten weißen Herrenmenschen, die den unbeugsamen Mann hart bedrängen ... - Ein historischer Krimi, ein Schauerroman, auf jeden Fall eine Offenbarung: "Die Wälder am Fluss" bieten ganz großes Thrillerhandwerk. Der Plot ist großartig, die Figuren leben, Spannung, Dramatik und Witz wechseln mit verblüffender Geschwindigkeit, die Atmosphäre lässt sich förmlich greifen, Stil, Ausdruck und Übersetzung vollenden eine Ausnahmegeschichte. Dies ist eindeutig der beste Roman, den der späte Stephen King nie geschrieben hat: ein Geheimtipp, der herausgeschrieen gehört.
Von Kluxern, dem Ziegenmann & einem irren Schlächter
Marvel Creek, ein winziges, schlammiges Dörfchen irgendwo im Osten des US-Staats Texas. Wir schreiben das Jahr 1933. Die Große Depression befindet sich auf ihrem Höhepunkt. Die Menschen sind arm, ihr Leben ist hart und einfach. Die Familie Crane gehört noch zu den Glücklichen - ihre Farm ernährt sie, man kann sogar ein Auto fahren. Vater Jakob verdient als Frisör dazu. Außerdem ist er der Constable der Gemeinde; einen "richtigen" Polizisten gibt es nicht.
Jakob ist beliebt und geachtet. Wenn da bloß nicht seine fehlgeleitete Philanthropie wäre! Der Constable pflegt nach Ansicht der rechtschaffenden weißen Bevölkerung allzu freundlichen Umgang mit den Farbigen. Sieben Jahrzehnte nach dem Ende der Sklaverei hat sich in Sachen Diskriminierung nichts geändert. Die "Nigger" gelten als Menschen zweiter Klasse. Sie haben sich zu ducken, sonst reiten des Nachts die "Kluxer" auf und lehren den Aufwiegler mit brutaler Gewalt, wo sein Platz ist - ganz unten in der sozialen Pyramide nämlich.
Harry, der elfjährige Sohn des Constables, findet eines Tages am Flussufer die grässlich verstümmelte Leiche einer schwarzen Frau. Sie wurde ermordet und geschändet - in dieser Reihenfolge. Für das weiße Establishment gilt die Frau nur als Niggerhure, die bekam was sie herausforderte. Ermittlungen sollen daher unterblieben. Jakob denkt jedoch nicht daran sich an die Regeln zu halten. Er fürchtet das Auftreten eines sadistischen Lustmörders, der wieder zuschlagen könnte. Harry dagegen verdächtigt den "Ziegenmann", eine satyrähnliche Legendengestalt, die in den dichten Wäldern um Marvel Creek ihr Unwesen treiben soll. Er hat ihn sogar schon gesehen. Die alte Miss Maggie munkelt sogar vom Teufel, der höchstpersönlich die Dorfgemeinschaft heimsuche.
Es gibt Spuren, die alle drei Annahmen bestätigen. Jakob lässt jedenfalls nicht locker. Immer begleitet von seinem Sohn, der in diesen wunderbar spannenden und schrecklichen Wochen zum Mann wird, ermittelt er unbeirrbar gegen Mörder, Monster und Mobmenschen. Er nähert sich dem Zentrum des Schreckens, bis er es endlich aufgespürt hat und es sich gegen ihn und seine Familie wendet ...
Ländliches Idyll mit messerscharfem Blick aufs Reale
Selten noch erfährt der langjährige und eifrige Leser von Kriminalromanen eine Offenbarung. Allzu tief ausgefahren sind die Geleise, auf denen die Werke vor allem der Bestseller-Könige (und Königinnen) am Leserauge vorbeirollen. In der Mainstreamsuppe schwimmen nur wenige Fettaugen und viel zu oft wird die gleiche Fertigmischung aufgekocht. Man hungert geradezu nach einem Leckerbissen, einer Ablenkung. Wie so oft wird sie uns aus völlig unerwarteter Quelle in die Blätterfinger gespült. DuMonts Kriminal-Bibliothek ist in der Regel ein Reservat für altmodisch klassische Krimis. Morde werden hier primär in verschlossenen Räumen und mit vergifteten Mottenkrallen begangen, mit denen dressierte Fledermäuse des Mitternachts ihren unglücklichen Opfern einen Drudenfuss in die Stirnen ritzen, während teuflisch schlaue Täter weit entfernt & für alle Zeugen gut sichtbar mit einem Pfarrer, einem Offizier und einem Kriminalisten Karten spielen.
"Die Wälder am Fluss" ist dagegen Lansdale pur: eine wilde, aber in sich völlig harmonische Mischung aus diversen Genres. Krimi, Horror, Historie - der Autor spielt jede Karte aus und behält doch immer noch ein As im Ärmel. Lansdale macht es sich und uns nicht einfach. Er zeigt eine Welt, in der Diskriminierung als völlig normal betrachtet wird und wie Hitze, Armut und Knochenarbeit zum Alltag gehört. Der wahre Horror braucht keine Peitschen schwingenden Plantagenfürsten oder den Ku-Klux-Klan. Lansdale macht uns klar, worin er wirklich besteht: Die schwarzen Bürger haben ihre Rolle akzeptiert. Sie verharren in ihrer Sklavenrolle, weil ihnen keine Alternative gewährt wird.
Dummheit und Vorurteil: die Gehilfen des Bösen
Daher beunruhigt es die Weißen viel mehr, dass Jakob Crane nach dem Mörder einer "Niggerfrau" fahndet, als ob er es mit einem "richtigen" Menschen zu tun hätte. Das gefährdet in ihren Augen die alte Ordnung. Tatsächlich plagt die "Herren" ständig die Furcht, dass jene "Nigger", die sie für intelligenzarm und feige halten, das ihnen auferlegte Joch abwerfen und an ihre Seite treten, sie womöglich von ihren Pfründen verdrängen, weil sie tatsächlich tüchtiger und erfolgreicher sind, wenn man sie nicht niederhält. Auf dass diese Gefahr abgewendet wird, sind sie sogar bereit das Wüten eines Serienmörders zu dulden. Die Hauptsache ist, dass alles bleibt wie es war und ist.
Dieser dumpf schwelende Konflikt böte allein schon Stoff für eine spannende Geschichte. Lansdale geht viel weiter. Er erzählt zusätzlich einen Krimi, der überzeugend den inzwischen reichlich angestaubten Plot vom besessenen Serienkiller der gewählten Kulisse anpasst. Der Verstand ist es, der im Guten wie im Bösen Grenzen sprengt; das gilt auch 1933. Überhaupt spielt die Atmosphäre mindestens dieselbe Rolle wie die Handlung. Während wir lesen, sehen wir vor unserem geistigen Auge die Crane-Farm, Marvel Creek, den "Ziegenmann", die "Niggerstadt" Pearl Creek - jeden Schauplatz erweckt Lansdale zum Leben, ohne dabei die Story zu vernachlässigen. Man kann nur staunen, wie sparsam und effektiv der Verfasser seine Worte setzt. Die gleichzeitig realistische wie phantastisch-märchenhafte Intensität seiner Geschichte ist wie ein Schlag ins Gesicht der Dan Browns, Kathy Reichses, Mary Higgins Clarks und anderer flachsinniger, seelenloser Schreibautomaten.
C. S. I. in Gummistiefeln
"Die Wälder am Fluss" ist ein Kriminalroman im Gewand einer Geschichte über das Erwachsenwerden. Der Mörder ist primär ein Katalysator, der die Handlung in Gang bringt und hält. Nur die Folgen seiner Taten werden offenbar, er selbst bleibt unsichtbar und wirkt dadurch um so nachdrücklicher: Über der ländlichen Idylle von Marvel Creek lastet ein düsterer Schatten. Dass er lange nicht wirklich auffällt liegt an dem Bösen, dass den "normalen" Menschen hier innewohnt.
Harry Crane steht an der Grenze zum Mann. Dazu gehört, dass er die Welt nicht mehr so hinnimmt wie sie ihm bisher erschien: schwarz und weiß, einfach strukturiert, regiert von Erwachsenen, die schon wissen, was sie zu entscheiden haben. Nun lernt Harry schmerzhaft, dass diese ideale Bild nicht der Realität entspricht. Im "richtigen" Leben gibt es Ziegenmänner und Mörder. Vor allem aber gibt es Rassisten, Lügner, Feiglinge, die mit Angst und Terror über andere Menschen herrschen, deren einziges "Verbrechen" in ihrer Hautfarbe liegt.
So muss Harry lernen seinen Platz in dieser Welt zu finden. Als Leitfigur dient ihm der Vater. Jakob Crane ist ein einfacher Mann, der eigentlich gut nach Marvel Creek passt. Es gibt nur einen gewichtigen Unterschied: Er mag die farbige Bevölkerung nicht verachten und unterdrücken. Ein dunkler Punkt in seiner Vergangenheit hat ihn umdenken lassen - Harry muss erfahren, dass auch sein verehrter Vater kein von Schuld freier Mensch ist.
Als Kriminalist ist Jakob ein Amateur. Zwar besitzt er die grundsätzlichen Tugenden eines Ermittlers: Er ist offen und bereit dazu zu lernen. Ein guter Polizist wird er dennoch niemals sein, so wie er auch stets ein armer Farmer bleiben wird. Dafür ist er ein guter Vater, der - Lansdale vermag er fabelhaft in die Handlung zu integrieren - seinem Sohn mehr lehrt als ihm selbst bewusst ist.
Von leutseligen Landeiern zum mordgieriger Mob
Erst spät in unserer Geschichte taucht Harrys resolute Großmutter auf. Sie passt leider nicht recht ins Ambiente. Selbstbewusst ist sie, diese Grandma June. Sagen lässt sie sich wenig, freundet sich demonstrativ mit der alten Miss Maggie an, lacht dem Pöbel ins Gesicht. Wieso gelingt ihr, woran Jakob scheitert? Einfach weil sie laut und dreist ist? So ganz mag uns das nicht überzeugen.
Die Bevölkerung von Marvel Creek ist einig in ihrer wirtschaftlichen Not. Niemand wird von der Wirtschaftskrise verschont, so dass es keinen Neid auf erfolgreichere Nachbarn gibt: Diese existieren einfach nicht. Es gibt die üblichen Faulpelze und Querulanten, die man indes kennt und mit denen man sich arrangiert. Eigentlich könnte das Leben in Marvel Creek also angenehm sein, gäbe es da nicht die andere Seite dieser Menschen - ihren bedingungslosen Rassismus, den sie als solchen niemals erkennen würden: Die Arbeit ist hart, die Sommer sind heiß, Kinder haben zu gehorchen - und Nigger sind minderwertige, latent gefährliche Wesen; keine Ahnung, was sich der Herrgott dabei dachte, sie uns aufzuerlegen, aber es ist geschehen und jetzt tun wir unsere Pflicht, indem wir sie kontrollieren und züchtigen.
Und so mutiert die Bürgerschaft von Marvel Creek ansatzlos zum Mob, wenn sie sich und ihre Familien von den nur geduldeten farbigen "Nachbarn" bedroht fühlen. Eindringlich beschreibt Lansdale die Mechanismen dieser Verrohung. Schon die Kutte des Ku-Klux-Klans verwandelt alltägliche Zeitgenossen in eine anonyme Macht, die sich gern hinreißen lässt im Schutz der angemaßten Herrschaft ihren niederen Instinkten nachzugeben. Reißt man ihnen die Kapuze vom Kopf, kommt meist ein ganz normaler Mensch zum Vorschein, der aus einem bösen Traum zu erwachen scheint.
Kann das denn alles wahr sein?
Doch im Verlauf der Lektüre erwacht leises Misstrauen. Können denn Hass und Verachtung wirklich so tief verwurzelt sein, dass nur der Anblick eines "frechen Niggers" die weißen Bürger quasi reflexartig zur Henkersschlinge greifen lässt? Hier fehlt dem deutschen Leser das historische Hintergrundwissen über das Zusammenleben von Weiß und Schwarz in der US-amerikanischen Provinz. Man möchte nicht immer das Schlimmste annehmen, deshalb mag es sein, dass Lansdale es in dieser Beziehung zum Wohle seiner Geschichte übertreibt. Schließlich ist es ebenso unwahrscheinlich, dass es ausgerechnet in Harry Cranes Welt einen frühen Profiler für Serienmorde gibt. Lansdale kann auch hier die Balance zwischen fiktiver Realität und Spekulation nicht halten. Auch die Identität des "Ziegenmanns" ist wohl nur für den unerfahrenen Thrillerfreund eine Überraschung. Solche Kritik muss indes sacht bleiben - den Gesamteindruck vermag sie nicht zu trüben, zumal ein fulminantes Finale, das an Dramatik und Schauder kaum zu übertreffen ist, die Story mit Höchstgeschwindigkeit auf die Zielgerade bringt.
Joe R. Lansdale, DuMont
Deine Meinung zu »Die Wälder am Fluss«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!