Tokio
- Grove
- Erschienen: Januar 2005
- 62
- London: Bantam, 2004, Titel: 'Tokyo', Originalsprache
- New York: Grove, 2005, Titel: 'The Devil of Nanking', Originalsprache
- München: Random House Audio, 2007, Seiten: 4, Übersetzt: Sophie Rois, Bemerkung: gekürzte Lesung
Hätte fast zwingend eine tolle Geschichte werden müssen - hätte...
Grey, die jahrelang in einer Klinik behandelt wurde, weil man sie für verrückt erklärte (sie hatte u. a. als 13-jährige freiwillig Sex mit fünf Jungen), ist besessen von den Greueltaten der Japaner, die diese den Chinesen 1937 vor allem in der Stadt Nanking antaten. Hierüber hat sie in einem Buch im Hause ihrer Eltern gelesen, doch als sie dieses Buch in der Klinik von ihren Eltern fordert, leugnen ihre Eltern die Existenz des Buches. Um sich und allen anderen zu beweisen, dass sie nicht verrückt ist bzw. sich nicht alles nur eingebildet habe, versucht sie die Geschehnisse in Nanking aufzuklären.
Als sie später Jura studiert stößt sie bei ihren Recherchen auf zwei Filme, die die Massaker der Japaner angeblich dokumentieren. Doch nur ein Film, der sich im Besitz von Shi Chongming befindet, einem Zeitzeugen der mittlerweile als Professor in Tokio tätig ist, zeigt die tatsächlichen Vorfälle. Grey bricht ihr Studium ab und verkauft ihren gesamten Besitz um nach Tokio zu fliegen und dort den ominösen Film zu sehen. Prof. Chongming streitet zunächst die Existenz des Filmes ab und so muss Grey notgedrungen länger als geplant in der Stadt bleiben. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen nimmt sie eine Stelle als Hostess in einem bekannten Nachtklub an und macht dort alsbald Bekanntschaft mit Fuyuki, einem der mächtigsten Yakuza-Bosse Tokios. Dieser soll sich im Besitz eines Elexiers befinden welches zur Unsterblichkeit verhilft und plötzlich bietet sich Grey eine Chance, an den Film Chongmings zu kommen. Dieser bietet ihr nämlich einen Deal an: Den Film gegen das Elexier.
Grey gelingt es zwar gemeinsam mit anderen Hostessen wiederholt in Fuyukis Privatwohnung eingeladen zu werden, doch als plötzlich tatsächlich ein Diebstahl in dessen Wohnung erfolgt, droht Greys Leben höchste Gefahr...
Ein junges Mädchen hat also Spaß oder Interesse am Sex und wird (so scheint es lange Zeit) dafür für verrückt erklärt und in eine Klinik eingeliefert. Dort hat sie zwar nahezu keinen Kontakt zur Außenwelt, besteht aber ihre Schulprüfungen und kann ein Studium beginnen. Dieses bricht sie nach kurzer Zeit ab, um in den Besitz eines geheimnisvollen Films zu kommen, für den sie - nahezu mittellos - nach Japan fliegt. Dass der mächtigste Gangster Tokios ausgerechnet in dem Nachtklub gastiert, in welchem die Protagonistin arbeitet, ist natürlich für den Fortgang der Geschichte ebenso hilfreich wie der Umstand, dass der Professor, der sich in dem Besitz des fraglichen Filmes befindet, wiederum ausgerechnet von diesem Mafia-Boss etwas haben möchte. Noch Fragen?
Die Geschichte spielt auf zwei Erzählebenen: In Rückblenden erzählt Chongming die Ereignisse des Jahres 1937, die dem Massaker japanischer Soldaten an der chinesischen Zivilbevölkerung vorausgingen. Dazu abwechselnd wird die oben kurz skizzierte Handlung in der Gegenwart erzählt. Spannend an dem Plot bleibt somit vor allem die Frage, ob und inwieweit die damaligen Ereignisse mit der heute spielenden Handlung in Zusammenhang stehen, denn das am Ende das Elexier gegen den Film getauscht wird, überrascht nicht wirklich, sondern muss geradezu zwangsläufig erfolgen, um den Plot schlüssig aufzulösen. Die Auflösung selber ist allerdings ebenso beeindruckend wie Geschmacksache.
Eine Story vor asiatischer Kulisse (Tradition, Lebensweisheiten, Mafia etc.) und ein Ausgangsszenario aus dem eigentlich fast zwingend eine tolle Geschichte werden muss, hat Mo Hayder, die mit ihren beiden Erstlingswerken Der Vogelmann und Die Behandlung mehr als überzeugen konnte, leider - aus meiner Sicht - in den Sand gesetzt.
Der anfangs nur schwer nachvollziehbare Lebenslauf von Grey wird zwar auf furiose Art aufgeklärt und auch die Ereignisse des Jahres 1937 werden sehr lesenswert geschildert, dennoch leidet die Story an zwei entscheidenden Problemen: Ihren verstörenden und völlig überzeichneten Charakteren sowie einer bedächtig-zäh ablaufenden Story, die erst im letzten Drittel deutlich an Fahrt gewinnt.
In Tokio ist oftmals von "Freaks" die Rede und diese trifft man auf nahezu jeder Seite. Kaum eine Person in dem Roman (bezogen auf jenem in der Gegenwart spielenden Handlungsstrang) kann als normal bezeichnet werden. Man rechnet förmlich damit, dass Dr. Frankenstein in einer Gastrolle auftritt, doch dieser fehlt überraschend. Nein, was Mo Hayder hier dem Leser teilweise zumutet ist Stuss und schlichtweg enttäuschend. Dies umso mehr, da Hayder ja brillant schreiben kann, wie ihre Vorgängerromane beweisen. Aber was soll man beispielsweise von einem Mann halten, der gerne "Freaks fickt" (gemeint sind entstellte oder verstümmelte Personen)? Und was hätte man nicht aus dem Verweis auf die Yakuza (Rituale etc.) machen können?
Der Plot, die Zusammenführung von Vergangenheit und Gegenwart, die Erzählung der Ereignisse in Nanking 1937 und nicht zuletzt die Erklärung für Greys Interesse an den damaligen Greueltaten sind durchweg positiv zu bewerten (vorausgesetzt, man ist bereit, die Auflösung als solche zu akzeptieren), aber jener Handlungsstrang in der Gegenwart und insbesondere die Charakterdarstellungen (ohne etwas verraten zu wollen: Gemeint sindvor allem Jason, "Strawberry" und die "Krankenschwester") machen Tokio zu einem zähen und schwer verdaulichem Werk. Zumal an keiner Stelle erläutert wird, warum die vorgenannten Figuren so "freaky" sind wie sie sind. Bleibt zu hoffen, dass Mo Hayder zu alter Stärke zurückfindet. Übrigens: Wo ist Jack Caffery?
Mo Hayder, Grove
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