Warten auf den Tod
- Heyne
- Erschienen: Januar 1972
- 7
- London: Methuen, 1929, Titel: 'The Man in the Queue', Seiten: 246, Originalsprache, Bemerkung: als Gordon Daviot
- München: Heyne, 1972, Titel: 'Der Mann in der Schlange', Seiten: 141, Übersetzt: Alfred Dunkel
- München: Heyne, 1980, Titel: 'Der Mann in der Schlange', Seiten: 141
- Köln: DuMont, 2003, Seiten: 285, Übersetzt: Jochen Schimmang
Perfekter Mord in dichter Menschenmenge
Niemand kennt den jungen Mann, dem eines Märzabends vor dem Woffington-Theater zu London ein Dolch in den Rücken gestoßen wird. Obwohl die Schlange der auf Einlass wartenden Thespisjünger sich um das große Haus windet, hat auch niemand die Bluttat beobachtet. Die zuständige Polizeiwache Gowbridge zeigt sich ratlos und bittet Scotland Yard um Unterstützung. Superintendent Barker schickt seinen besten Mann: Alan Grant, den Gentleman-Polizisten, der mit Köpfchen und Eleganz noch jeden Fall gelöst hat.
Dieses Mal lassen sich die Ermittlungen schwerfällig an, denn es gibt zwar Spuren, die jedoch zunächst nur ins Leere führen. Die Anonymität des Opfers macht Grant zusätzlich zu schaffen. Ausgerechnet ein "alter Kunde", der Ganovenkönig Danny Miller, kann dem "verdammten Polypen" behilflich sein: Den Toten hat er als Buchmacher während eines Pferderennens kennen gelernt.
Jetzt kommt die Polizeiarbeit in Schwung. Unerbittlich verbeißt sich Grant in die sich allmählich mehrenden Spuren. Bald schon bekommt er den mutmaßlichen Mörder zumindest aus der Ferne zu Gesicht. Noch gelingt diesem die Flucht, aber er ist nervös geworden und macht sich nach Schottland davon. Gut verkleidet folgt ihm Grant und waltet seines Amtes, aber die Unschuldsbeteuerungen des Mannes verunsichern ihn. Tatsächlich gibt es da Indizien, die in eine ganz andere Richtung weisen - und Grant ist nicht der Kriminalist, der sich mit dem Offensichtlichen zufrieden gäbe!
Mörderjagd klassisch - mühsam und methodisch
Ein Mord geschieht und wird aufgeklärt: So kurz lässt sich der Inhalt des hier vorgestellten Kriminalromans zusammenfassen. Ob er deshalb so gut funktioniert? Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Die Schnörkellosigkeit des Plots täuscht; er ist wesentlich kunstvoller komponiert als er zunächst erscheint. Vor allem in der ersten Hälfte sind es die wenigen Indizien, die den Eindruck erwecken, der Fall sei gelöst, wenn Grant die Bruchstücke in der korrekten Reihenfolge zusammengesetzt hat.
Selten steht in einem "klassischen" Thriller die profane Kriminalistik so im Vordergrund wie hier. Dabei wird das "police procedural” im Kriminalroman erst in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg datiert. Vorher hüllte sich der Ermittler üblicherweise in den Dunst der eigenen Genialität, den in der Regel ein "Watson" - jemand der in Vertretung der Leser die dummen Fragen stellt - aufhellen muss. Josephine Tey geht einen anderen, für einen schon 1929 entstandenen Krimi bemerkenswert "modernen" Weg. Sie lässt uns in ausgedehnten inneren Monologen teilhaben an den Gedankengängen des Alan Grant. Diese machen sehr deutlich, dass der keinen "Assistenten" benötigt, sondern sehr gut allein seine Arbeit erledigen (und sich dabei tüchtig irren) kann.
Stück für Stück vervollständigt Grant das Puzzle. Harte Arbeit, Beharrlichkeit, die Unterstützung durch Kollegen, Glück und Zufall - hervorragend und stets überzeugend zeichnet Tey das Bild professioneller Polizeiermittlungen. Entspricht es der Wirklichkeit? Das ist nebensächlich, denn dank Tey glauben wir es zumindest und das reicht völlig aus.
Was Alfred Hitchcocks Aufmerksamkeit erregte
Zudem hat die Verfasserin ein Händchen für eindrucksvolle Szenen. Die ersten Seiten, die das Ende des unglücklichen Buchhalters schildern, sind eines Alfred Hitchcock durchaus würdig: Inmitten einer Menschenmenge ereignet sich völlig unverhofft ein Mord. (1937 bediente sich der "Master of Suspense" des Teyschen Grant-Romans "A Shilling for Candles" als Vehikel für seinen Film "Young and Innocent".) Dies bettet Tey so genial in eine lebendige Schilderung menschlichen Verhaltens ein, dass es auch den Leser überraschen kann. Auch später gelingen der Verfasserin immer wieder solche Szenen. Zu erwähnen ist beispielsweise Grants Besuch im Woffington-Theater, der in jeder Zeile von der Vertrautheit Teys - die viele Jahre Bühnenstücke schrieb - mit diesem Milieu kündet.
Der Mittelteil spielt in den Highlands, die Tey, der geborenen Schottin, ebenfalls wohl vertraut waren. Auch hier ist Hitchcock nahe: Die Figuen seiner Verfilmung des John-Buchan-Bestsellers "The 39 Steps” (1935, dt. "Die 39 Stufen”) liefern sich ebenfalls eine Hatz durch Heide und Moor - und dann ist da natürlich d e r Sumpfkrimi-Klassiker "Der Hund der Baskervilles” (1901) mit Sherlock Holmes & Dr. Watson von Arthur Conan Doyle.
Nationalstolz falsch verstanden
Einige heute gewichtige Anlässe zur negativen Kritik liefern unschöne Ressentiments. Josephine Tey (die als Schottin geboren wurde) ist Britin durch und durch. Sie meint "ihre" Landsleute zu kennen und projiziert dies auf Alan Grant. Der sieht den Dolch im Rücken des Opfers und "weiß" sogleich: "Kein echter Engländer würde eine solche Waffe benutzen." (S. 19) Deshalb "muss" ein Südeuropäer die Tat begangen haben: "Südländer waren in ihren Gefühlen notorisch verletzlich; eine Beleidigung nagte ein Leben lang, ein verirrtes Lächeln auf der Seite ihrer Angebeteten, und sie liefen Amok."
(S. 20) Solche Passagen verraten dann doch das wahre Alter der ansonsten nur edel gereiften Geschichte. Manchmal verärgern sie sogar, auch wenn man sich vor Augen führt, dass Tey nur schreibt, wie vielen englischen Zeitgenossen der Schnabel gewachsen war: "[Grant] kannte die fast rattenhafte Vorliebe des Südländers für die Kloake eher als für das Offene." (S. 76)
Genial, doch nicht unfehlbar
Dieser Alan Grant ist ungeachtet seiner Vorurteile ein höchst interessanter Charakter. Es heißt, dass Josephine Tey ihm viele eigene Wesenszüge aufgeprägt hat. Sie hat offenbar stets allein gelebt und das für völlig normal befunden. Bei der Lektüre fällt Grants ausgeprägter Hang zum Alleinsein auf. Darunter leidet er jedoch nicht; es ist sein Lebensstil, so dass Tey keine Zeit darauf ver(sch)wenden muss, dem armen Mann eine Gefährtin finden zu lassen. Die Abwesenheit solcher Seifenoper-Elemente ist durchaus zu verschmerzen.
Grant ruht in sich selbst. Er ist ein scharfer Beobachter mit festen Grundsätzen. Das macht ihn nicht unbedingt sympathisch. Grant ist sehr von sich und seinen Fähigkeiten eingenommen. Dafür gibt es oft gute Gründe, manchmal aber nicht; seine persönlichen Vorurteile lässt Grant sehr wohl in seinen Polizeialltag einfließen. Das hat er mit den Kriminalisten seiner Ära gemeinsam. Trotzdem ist da nichts von den Schrullen, mit der beispielsweise Agatha Christie ihren Hercule Poirot oder ihre Miss Marple ausstattet. Außerdem Grant ein Snob; er kann es sich ja erlauben, hat er doch eine Erbschaft gemacht, die ihm finanzielle Unabhängigkeit garantiert. Trotzdem ist er bei Scotland Yard geblieben, denn weniger die Jagd auf Verbrecher als die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ist seine Passion.
Solche Abstraktionen und Übertreibungen koppeln eine Figur von der "Realität" ihrer Geschichte ab und verleihen ihr ein Eigenleben, das sie unsterblich werden lassen kann. Grant ist dagegen zu stark und zu kühl, als dass er das Herz der Leser gewinnen könnte. Man akzeptiert ihn, wenn er schließlich begreift, dass die Realität sich dem Verstand nicht zwangsläufig unterordnet, aber man liebt ihn nicht. Für die Konsequenz, mit der Tey dies umsetzt, im Thrillergenre ihren eigenen Weg geht und nicht den größten gemeinsamen Lesernenner anpeilt, gebührt ihr Anerkennung.
Was ist "gut", was ist "böse"?
Nur wenige Figuren sind für Tey eindeutig "gut" oder "böse". Normalerweise steckt ein bisschen von beidem in ihren Protagonisten. Auch das wirkt heute weniger zeitgenössisch als zeitgemäß. Wie man sich denken kann, bezieht Tey die weiblichen Figuren hier ein. Ihre Frauen sind keine notwendigen Randgestalten, die gerettet oder geheiratet werden müssen, sondern stehen fest im Leben, das sie aktiv - und wiederum im Positiven wie Negativen - gestalten.
Wahrer Witz angelsächsischer Herkunft
Positiv gilt weiterhin Teys ausgeprägter Sinn für den (in der Übersetzung erhalten gebliebenen) "britischen” Humor, der nicht ohne Grund so berühmt geworden ist, setzt er doch nie auf den plumpen "Brou-har-har”-Effekt, der z. B. für das deutsche Privatfernsehen lebensnotwendig ist: "... der Arbeit brachte seine eigenen Schrecken mit sich in dem hell erleuchteten Gemeindesaal, wo ... Frauen umherliefen ..., dabei viel redeten und wenig zustande brachte, da keine von ihnen etwas tun konnte, ohne daß eine andere eine Verbesserung vorschlug, was hieß, dass das Komitee schon mitten in der Sitzung war.” (S. 151). Oder Teys Kommentar zum Dorfleben: "Die beiden Männer waren niemandem aus der Gemeinde persönlich bekannt gewesen. Sie waren ... aus der Ferne als moralische Aussätzige ohnegleichen betrachtet worden, aber als Gesprächsthemen besaßen sie jene nie schwindende Anziehungskraft, die die ausgekochte Verworfenheit auf die Tugend ausübt, und keine Einzelheit ihres Lebens war den Leuten verborgen geblieben.” (S. 153). Wieso solche Aperçus witzig sein soll, fragt da jemand? Tja, wer so denkt, der halte sich doch lieber an Bully & Bam Magera ...
Josephine Tey, Heyne
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