Akte Atlantis

  • Blanvalet
  • Erschienen: Januar 2001
  • 8
  • New York: Putnam, 1999, Titel: 'Atlantis Found', Seiten: 534, Originalsprache
  • München: Blanvalet, 2001, Seiten: 2001, Übersetzt: Oswald Olms
  • München: Goldmann, 2003, Seiten: 573
Akte Atlantis
Akte Atlantis
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2004

Adolfs Reagenzglas-Sturmtruppen

September 1858: Die Stephansson Bay in der Antarktis ist des Winters kein angenehmer Aufenthaltsort. Die Besatzung des Walfängers "Paloverde" kann dies nur bestätigen, denn schon sechs lange Monate ist das Schiff im Packeis eingeschlossen. Roxanne, die Gattin Kapitän Menders, vertreibt sich trotz der rauen Witterung die Zeit gern mit ausgiebigen Märschen durch die unwirtliche Landschaft. Nun steht sie plötzlich vor einem Geisterschiff: dem Ostindienfahrer "Madras", der schon im August 1779 mit Mann und Maus hier scheiterte, so dass keines Menschen Auge bisher die sagenhaften Schätze bewundern konnte, die man auf einer einsamen Insel entdeckt hatte: Schrifttafeln, Statuen und Kultobjekte einer unerhört fortschrittlichen, bis dato völlig unbekannten Zivilisation der Urzeit. Doch das Eis holt sich die "Madras" zurück, und Roxanne kann nur ein Artefakt bergen: einen herrlichen Schädel, gearbeitet aus schwarzem Obsidian!

143 Jahre später kommt das Gegenstück zum Vorschein, entdeckt in einem Minenschacht im US-Staat Colorado. Noch interessanter sind die mit Schriftzeichen bedeckten Wände der Kammer, in der er gefunden wurde. Dr. Patricia O'Connell, Expertin für alte Sprachen, wird gerufen, doch als sie sich gerade daran macht, die Fundstätte zu untersuchen, werden sie und ihre Begleiter durch eine vorsätzlich ausgelöste Explosion tief unter der Erde verschüttet.

Rettung kommt von dort, wo nicht damit zu rechnen war: Aus einem mit Grundwasser gefüllten Stollen taucht Dirk Pitt auf, Leiter der Abteilung für Spezialprojekte der "National Underwater and Marine Agency" (NUMA), die der US-Marine angegliedert ist. Pitt macht Urlaub in Colorado und widmete sich dem Höhlentauchen, als er von dem Unglück erfuhr. Nun will er den Eingeschlossenen helfen, als plötzlich maskierte Finsterlinge auftauchen, die alle Anwesenden umbringen wollen, nachdem sie ihnen (und dem Leser) freundlicherweise eröffnet haben, sie hätten "zu viel gesehen".

Mit Pitt sind die Schurken allerdings an den Falschen geraten. Doch nachdem er und seine Begleiter sich der Möchtegern-Meuchler entledigt haben, tappen sie im dunkeln, wieso die Bewegung "Neue Bestimmung" (soviel kann man immerhin in Erfahrung bringen) versucht, die Entdeckung der Kammer geheim zu halten. Aber Dirk Pitt wäre nicht der Mann, der einst die "Titanic" hob, wenn er nicht bald einer aberwitzigen Weltverschwörung auf die Schliche käme, die vom alten Atlantis über Hitlers "Führerbunker" in Berlin bis in das ewige Eis der Antarktis reicht, wo sich das "Vierte Reich" anschickt, die Welt buchstäblich aus den Angeln zu heben ...

Ein Mann lebt seinen Traum - und es gelingt ihm sogar, die Realität entsprechend umzugestalten: Längst ist kein Geheimnis mehr, dass Dirk Pitt das literarische Alter Ego Clive Cusslers ist - nur eben jünger (und schlanker) und mit mehr Schlag bei den Frauen ... (1) Aber sonst ist die Übereinstimmung inzwischen fast komplett, sind die Übergänge zwischen Fiktion und Realität fließend. Die NUMA hat ganz im Hier und Jetzt schon 1979 ihre Arbeit aufgenommen (2), Clive Cussler tritt gottvatergleich höchstpersönlich in seinen Thrillern auf, und sogar Pitts mit Oldtimern aller Art vollgestellter Flugzeughangar hat sein reales Gegenstück: Cussler nennt inzwischen mehr als 85 klassische Automobile sein Eigen.

Das kann man sich schon leisten, wenn man 120 Millionen Bücher in mehr als 100 Ländern dieser Welt verkauft hat. Seit er 1976 den simplen, aber im Nachhinein genialen Einfall hatte, einen ansonsten recht konventionellen Agententhriller mit ebensolchen Helden und Bösewichtern an Bord der "Titanic" spielen zu lassen, ist es immer gut für Clive Cussler gelaufen. Davor hatte er schon mehr als ein Jahrzehnt als Schriftsteller gearbeitet; der Erfolg stellte sich also nicht über Nacht ein. Dasselbe gilt für Dirk Pitt; in "Raise the Titanic!" (dt. "Hebt die Titanic!") hatte er keineswegs seinen ersten Auftritt. Schon drei Jahre zuvor war er in "Mediterranean Caper" (dt. "Der Todesflieger") auf der Bildfläche erschienen, ohne dabei besonders zur Kenntnis genommen zu werden. Auch "Iceberg" (1975, dt. "Eisberg") verriet noch nicht den unwiderstehlichen Klabautermann mit James Bond-Potenzial.

Doch seit Dirk Pitt die "Titanic" hob (3), hält er sich für einen notorischen Tiefseetaucher erstaunlich hartnäckig und hoch auf den Bestseller-Listen dieser Welt. Dabei bedeutete der "Titanic"-Triumph in gewisser Weise schon das Ende des Schriftstellers Clive Cussler: Er hat in einem Vierteljahrhundert keinen Grund mehr gesehen, vom einmal entdeckten Erfolgsrezept auch nur ein Jota abzuweichen. So beginnt also auch "Akte Atlantis" mit dem typischen Cussler-Prolog, der ein historisches Rätsel der Vergangenheit beschreibt, das nie gelöst werden konnte (bis Dirk Pitt kommt). Dieses Mal ist es sogar zweiteilig; ganz klassisch geht zum einen ein Schiff unter mysteriösen Umständen verloren, während zum anderen das dramaturgisch stets zuverlässige Weltuntergangs-Szenario eines gewaltigen Kometeneinschlages heraufbeschworen wird, dem dieses Mal nicht die Dinosaurier, sondern wie im Titel schon angekündigt das sagenhafte Atlantis zum Opfer fällt.

Das hat man schon oft gesucht in den Jahrtausenden, die seither verstrichen, aber wie so oft bleibt es dem Glückspilz Pitt vorbehalten, es tatsächlich zu finden. Wie er das schafft, verfolgt der Leser gern, denn Cussler variiert zwar nur bekannte Action-Thriller- Elemente, aber er nimmt seinen Auftrag zu unterhalten sehr ernst, und das wird bei der Lektüre jederzeit deutlich. In einem Cussler-Thriller ist immer etwas los; auch "Akte Atlantis" macht da keine Ausnahme. Über neun Jahrtausende und den gesamten Erdball spannt sich bald der Spannungsbogen; ein eindrucksvolles Szenario, das indes in der Summe seiner einzelnen Bestandteile deutlich besser wirkt denn als Ganzes.

Denn leider verliert Cussler seine Atlantis-Geschichte bald aus den Augen; sie ist nur einer der zahlreichen Plots, mit denen der Autor die Handlung seiner Romane künstlich zu verwirren pflegt. Natürlich ist bei einem fröhlich-unlogischen Thriller vom Kaliber der "Akte Atlantis" die Gefahr stets groß, es mit den abenteuerlichen Verwicklungen um des Effektes willen zu übertreiben. Hier leistet sich der Autor mit der Besetzung der Schurkenrolle(n) einen bösen, nicht wieder gut zu machenden Fauxpas.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR ist auch für Cussler das unerschöpfliche Reservoir ausgetrocknet, aus dem Literatur und Film die kapitalsten Bösewichter fingen. Seitdem mussten sich besonders heldenhafte Weltenretter nach neuen ebenbürtigen Gegnern umschauen, aber niemand wirkt bis dato so schön teuflisch wie die Sowjets - mit einer Ausnahme: die Nazis, die letzten Finsterbolde der Geschichte, denen die US- Boys einst mit Fug? und Recht in den Hintern treten konnten, ohne dafür vom undankbaren Rest der Welt kritisiert zu werden!

Doch inzwischen haben die 'klassischen' Nazis zumindest auf dem Unterhaltungssektor als Schreckgestalten ausgedient. Die letzten realen Überlebenden suchen keinen Lebensraum im Osten mehr, sondern höchstens den Ausgang der Senioren-Toilette. Ihre angeblichen Nachfolger im Geiste wirken höchstens beklemmend in ihrer bösartigen Verstocktheit, sind aber niemals eindrucksvoll oder lassen gar den Eindruck aufkommen, sie könnten die Welt beherrschen. Daher war es keine gute Idee, Dirk Pitt dieses Mal gegen die Schergen des "Vierten Reiches" antreten zu lassen. Die neuen Nazis dreschen die alten Phrasen, und wer mit einem U-Boot Baujahr 1945 die Weltmeere durchkreuzt, taugt einfach nicht zum scheinbar allmächtigen Unsichtbaren Dritten!

Im weiteren Verlauf der Handlung wird das brauntrübe Gemenge zusehends unbekömmlicher. Cussler hakt im Schnelldurchgang die nazideutsche Geschichte ab, wie sie seine Landsleute aus den "Indiana Jones"-Filmen kennen: Zusammen mit viel Nazi-Prominenz, geraubten Schätzen und der Heiligen Lanze reist also Anno '45 Hitlers Asche gen Südamerika, aber vorher hat der "Führer" noch eine Probe seines Spermas einfrieren lassen, aus dem der finstere Dr. Mengele eine Rasse arischer Supermenschen (Familie Wolf: u. a. Karl, Otto, Elsie, Heidi und - Blondi ...) mendelt (4), die im Jahre 1 des 3. Jahrtausends das Erbe der Atlanter antreten, den anstehenden Untergang der Welt an Bord gleich einer ganzen Flotte von Arche Noahs überstehen und über den Ruinen der alten eine neue Welt, ein zehntausendjähriges (!) "Viertes Reich" gründen wollen. Klingt das irgendwie bescheuert? Keine Sorge; es wird sogar noch bizarrer! (5) "Akte Atlantis" gehört eindeutig zu jenen Produkten der Unterhaltungsindustrie, die sich nur mit einem ausgeprägten Sinn für unfreiwilligen und schrägen Humor goutieren lassen. Dann allerdings kommt man auf seine Kosten - sowie zu der Erkenntnis, dass Cussler sichtlich nicht mehr weiß, gegen welchen Gegner er den unbezwingbaren Pitt in seinem 15. Abenteuer noch antreten lassen soll!

Er ist eben nie wirklich erwachsen geworden, dieser Clive Cussler. Wenn er heute in den Spiegel schaut, sieht er offenbar noch immer jenen abenteuerlustigen Jüngling (geboren 1931 im sonnigen Alhambra, Kalifornien), der mit der Airforce in den Koreakrieg zog (wenn auch als Mechaniker und Bordingenieur, nicht als Pilot, wie uns mancher Klappentext weismachen möchte ...), nicht den dickbäuchigen Rentner mit dürren Beinen, der zumindest in Shorts und mit Kapitänsmütze auf Fotos nicht den kernigen Eindruck hinterlässt, der offenbar erwünscht ist. Seinen Hang zur Übertreibung konnte Cussler in den Jahrzehnten entwickeln, die er an der Spitze zweier sehr erfolgreicher Werbeagenturen verbrachte; selten fehlt in seiner Vita der Hinweis, dass er dafür sogar in Cannes preisgekrönt wurde.

Inzwischen schreibt Cussler seine Pitt-Romane wohl hauptsächlich nur noch deshalb, um Geld für sein kostenintensives Steckenpferd, die NUMA, aufzutreiben. Wirklich Neues bieten sie schon lange nicht mehr. Aber auch "Akte Atlantis", so enttäuschend und dümmlich der Nazi-Subplot auch missraten ist, kann im Atlantis-Handlungsstrang Boden wett machen. Hier spielt Cussler sein Talent aus, Historien-Rätsel und High-Tech (plus eine ordentliche Dosis Tom Clancy-Militär-Fetischismus) zu einem unwiderstehlichen Garn zu verknüpfen, dem man sich immer noch gern anvertraut, wenn man sich als sturmerprobter Leser in den Mahlstrom der modernen Belletristik hinablässt.

Anmerkungen:

(1) Sogar leicht schizophrene Züge lassen sich feststellen, denn ganz sicher projiziert Cussler sein Ich auch in die Figur des knorrigen Übervaters Admiral Sandecker.

(2) Sie leistet das, wovor sich die echte Marine drückt, und forscht legendären Schiffswracks hinterher. Auch wenn "Dr." Clive Cussler mit seinem Ehrentitel (verliehen von der State University of New York) ein wenig verschwenderisch umgeht und der historische Wert ihrer Arbeit manchmal etwas fragwürdig ist, lohnt die Website der NUMA (www.numa.net) auf jeden Fall einen Besuch; gerade entdeckt hat man übrigens das Wrack des Geisterschiffes "Mary Celeste"! "Jagd am Meeresgrund" ("The Sea Hunters", 1997), die gedruckte Geschichte der realen NUMA, ist leider zur Zeit vergriffen; als Sachbuch-Autor ist Cussler übrigens erstaunlich zäh zu lesen.

(3) Das ist ja realiter bekanntlich ein schöner Traum geblieben ist und wird auch einer bleiben; dem armen Cussler beschert seine Version der "Titanic"-Historie seit der Wiederentdeckung des Wracks 1985 arge Probleme, denn sie lässt sich nur schwer in die Chronologie seines Helden einpassen. Wenn man so will, schreibt Cussler eigentlich schon vor "Akte Atlantis" Fantasy-Geschichten, angesiedelt auf einer Parallelwelt, die sich von der unsrigen irgendwann vor 1912 (denn auch Cusslers "Titanic"- Untergangsszenario weist einige dichterische Freiheiten auf) getrennt haben muss. In Cusslers Jahr 2001 wird jedenfalls die Erhebung Prinz Charles' auf den englischen Thron gefeiert: und d a s ist dann echte Science Fiction!

(4) Da der "Führer" primär als Verbalerotiker in die Geschichte einging, muss es einige Zeit gedauert haben, bis genügend genetisches Ausgangsmaterial zusammengekommen war; dank Clive Cussler wissen wir nun endlich, wieso sich Hitler so lange in seinem unteririschen Bunker verkrochen hat!

(5) Was mag Cusslers in Deutschland geborene Mutter ihrem Sprössling bloß über ihr Heimatland erzählt haben? Reichten ihre Schauergeschichten womöglich für mehr als einen Roman aus? Warten wir's ab - "Valhalla Rising" nämlich, das aktuelle (noch nicht in Deutschland erschienene) Pitt-Spektakel!

Akte Atlantis

Clive Cussler, Blanvalet

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