Schlaf, Kindchen, schlaf
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2004
- 1
- Berlin: Ullstein, 2004, Seiten: 335, Originalsprache
- Daun: TechniSat Digital, Radioropa Hörbuch, 2006, Seiten: 7, Übersetzt: Doris Gercke
Wie eine hervorragende Geschichten-Erzählerin scheitert
Schade. Der Roman fängt phänomenal gut an, so dass man fast glauben möchte, es mit einem wirklich großen zu tun zu haben. Atmosphärisch außerordentlich dicht beschreibt Doris Gercke in dem Kriminalroman "Schlaf, Kindchen, schlaf" ein Kaff in der brandenburgischen Provinz. Alles wirkt verschwommen. Das passt, denn die die Ex-Polizistin Bella Block wacht aus einem Schlaftabletten-Tiefschlaf auf. Eine bizarre Kneipenszene. Eine merkwürdige Bekannte. Ein Flugzeugabsturz. Es gab Tote. Zwei Frauen auf der Flucht.
50 Seiten lang nimmt die Geschichte richtig Fahrt auf, bis es dann kontinuierlich bergab geht und immer flacher wird. "Schlaf, Kindchen, schlaf" ist leider ein Beispiel für einen Roman, der auf den ersten Seiten viel verspricht und am Ende nicht sehr viel gehalten hat. Mit Müh' und Not hält Doris Gercke ein Level, dass zwar über dem Durchschnitt liegt, aber nicht viel mehr. Mit ihrem packenden und unterhaltsamen Erzählstil macht sie allerdings Schwächen in der Story wieder wett, so dass man unter dem Strich das Buch doch noch getrost weiterempfehlen kann.
Der erste Bruch erfährt der Leser auf Seite 43. Ein Fremder führt Bella Block in den Wald. Er will ihr etwas zeigen. Es sind zwei zerstückelte Kinder. Bella Block und ihr Begleiter rufen aber nicht die Polizei, obwohl gerade die gelernte Kriminalistin Block wissen müsste, dass Fälle dieser Art nicht einfach warten können. "Was ändert es, ob die heute oder morgen kommen? Lassen sie die Leute (im Dorf) ruhig schlafen. Wenn es hell ist, lässt sich das alles leichter untersuchen", empfiehlt der Fremde. Bella willigt schließlich ein. Immerhin denkt sie darüber nach, "weshalb sie damit einverstanden gewesen war, die Polizei erst am nächsten Morgen zu verständigen. Es fiel ihr kein besonderer Grund dafür ein, außer, dass sie müde gewesen war."
Am nächsten Morgen - zehn Seiten später - verlässt Bella Block mit ihrer Freundin Hannah das unheimliche Dorf, das im Verlauf der Geschichte keine Rolle mehr spielt. Der sehr gute Einstieg wird damit funktionslos - überflüssig. Über die anderen Andeutungen - der Flugzeugabsturz, die Flucht - erfährt der Leser auch nichts mehr. Möglicherweise handelt es sich um Verweise auf frühere Romane. Als Einstiegsleser kann man das aber nicht wissen.
Es kommen schon noch einige gute Szenen, aber nie wieder findet die Autorin zu dem dichten Erzählstil des Anfangs zurück. Viel zu nüchtern - fast lieb- und mitleidslos - schildert sie das Schicksal eines missbrauchten Kindes in Südostasien und eines Kindersoldaten in Südamerika.
Es wird auch noch einen Mord geben - aber wieder reagiert Bella Block, als habe sie einen toten Igel auf der Straße gefunden. Die Leiche wird teilnahmslos in einer Ecke liegen gelassen, die Geschichte geht einfach weiter. Schlimmer noch: Bella Block unterstützt die potenziellen Täter. Zwar sind diese Täter auch Opfer, dennoch passt diese Handlungsweise nicht zu der Hauptfigur, die von der Autorin zwar als Weltverbesserin geschildert wird, aber eine, die der Realität die Treue hält. Ihr Freund, ebenfalls realitätsnaher Weltverbesserer, handelt vergleichbar. Er findet Mordopfer, steht Aug' in Aug' mit den Tätern, die sogar noch die Maschinenpistole in der Hand halten, und hilft ihnen dennoch. Sein Motiv: Wie Bella Blick will er die Welt retten. Solche Personen gibt es, aber sie sind schizophren. Doris Gerckes Romanhelden hingegen sind eindeutig, viel zu eindeutig und viel zu vernünftig, um derart wirr zu handeln.
Es sind aber nicht nur die Details und die Figuren, die nicht stimmen. Die ganze Geschichte ist extrem unrealistisch. Viele Dinge passieren, die einfach nicht passieren können. So schaffen es beispielsweise Dutzende Analphabeten- Kinder aus allen Teilen der Welt, sich in einem Maß zu organisieren, wie es gut ausgebildete Logistiker keinesfalls besser machen könnten. Wer schon mal mit solchen Kindern auch nur entfernt zu tun hatte, weiß, dass das absoluter Nonsens ist.
Vielleicht hätte Doris Gercke noch so eine Art Science Fiction aus dem Buch machen können. Da muss nicht alles erklärt werden, da bestimmten unbestimmte Kräfte das Spiel. Auf diese Möglichkeit hat sie aber verzichtet. Doris Gercke ist eine hervorragende Geschichtenerzählerin. Aber dieser Bella-Block-Roman ist zu großen Teilen gescheitert.
Doris Gercke, Ullstein
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