Freie Hand für De Luca
- Elster
- Erschienen: Januar 1998
- 4
- Palermo: Sellerio, 1990, Titel: 'Carta Bianca', Seiten: 121, Originalsprache
- Baden-Baden; Zürich: Elster, 1998, Seiten: 115, Übersetzt: Susanne Bergius
- München; Zürich: Piper, 1999, Seiten: 115
Wer wirft den ersten Stein?
Norditalien, April 1945. Der Einmarsch der Alliierten und der Zusammenbruch des Faschismus stehen unmittelbar bevor. Kommissar De Luca, im Amt der Quästur von Bologna, erhält den Auftrag, den Mord an Vittorio Rehinard, einem Mitglied der Faschistischen Republikanischen Partei, zu untersuchen. Dieser wurde vom Portier in seiner Wohnung erstochen aufgefunden. Der Tote hatte Verbindung zum Grafen Tedesco, einem Mitglied des diplomatischen Corps der Faschisten und somit in hoher politischer Funktion.
Auf Grund der Verwicklungen des Falles in höchste Faschistische Kreise und dem drohenden Einmarsch der Alliierten rechnet De Luca damit, dass die Ermittlungen nicht weitergeführt werden. Doch zu seiner Überraschung bestehen der Quästor und der wohl nicht zufällig im Büro anwesende Sekretär der Faschistischen Partei, Vitali, unbedingt auf der Aufklärung des Falles und sagen dem Kommissar maximale Unterstützung durch Partei und Miliz zu.
De Luca kehrt an den Tatort zurück. Er findet zwar nicht die Tatwaffe, aber eine große Menge Heroin. Der Portier ist nicht auffindbar, und das Dienstmädchen, von Rehinard kürzlich entlassen, ist seit Tagen verschwunden.
Wir lernen weitere Personen aus dem Umfeld des Ermordeten kennen:
- Sonja, die Tochter des Grafen Tedesco, alkoholisiert und offenbar drogenabhängig, war wie viele andere Frauen Geliebte des Opfers.
- Die geheimnisvolle Wahrsagerin Valeria, das Medium eines spiritistischen Zirkels, dem sowohl Sonja als auch Rehinard angehörten, ebenfalls Geliebte des Toten.
- Signora Alfieri, Frau des Professor Alfieri, einem Faschisten und Regierungsmitglied, war auch beim spiritistischen Zirkel und Geliebte von Vittorio Rehinard.
Dann überschlagen sich die Ereignisse: Die Frau des Portiers wird ermordet, der Portier selbst denunziert und im Hauptquartier der Gestapo gefoltert und getötet. Der Quästor und Vitali weisen De Luca unmissverständlich an, die Ermittlungen auf Tedesco zu konzentrieren und die Familie Alfieri als Tabu zu betrachten.
Doch De Luca spürt zunehmend, dass man ihn in eine falsche Richtung drängt und zum Spielball einer offensichtlichen innerparteilichen Auseinandersetzung macht. Er beschließt, seinen eigenen Weg zu gehen...
"Freie Hand für De Luca" von Carlo Lucarelli ist ein sehr guter, spannender, abwechslungsreicher Kriminalroman vor dem Hintergrund der Ereignisse in Norditalien im April 1945. Lucarelli vermeidet lange Beschreibungen und setzt vorwiegend auf Dialoge, er erzielt damit ein relativ hohes Tempo, sein Stil ist flüssig, schlackenlos und effizient, seine Sprache immer klar und intensiv.
Durch seine Methode, Ereignisse, Stimmungen und politische Lage vorwiegend über die Gespräche der handelnden Personen zu vermitteln, erreichen diese eine große Glaubwürdigkeit. Man fühlt sich oft direkt in das Geschehen hineingezogen.
Dazwischen beweist der Autor immer wieder seinen Sinn für humorvolle oder satirische Details:
"Vitali erhob sich mit dem für die faschistische Uniform typischen Stoffrascheln und ließ seine Stiefel hinter De Lucas Rücken knirschen."
Für das bessere Verständnis dieses Romans scheint mir die Beantwortung von zwei Fragen wichtig zu sein:
- Was sind die historischen, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe in Italien zu jener Zeit?
- Wer ist Kommissar De Luca?
Die erste Frage beantwortet Katrin Schaffner vorbildlich in dem Nachwort zu diesem Buch, einem sehr guten, kurzen und übersichtlichen Aufsatz über die sog. Republik von Saló.
Die zweite Frage beantwortet Lucarelli in einzelnen Textstellen, Äußerungen des Kommissars oder der anderen handelnden Personen. Daraus ergibt sich folgendes Bild: De Luca war einer der besten Detektive der ital. Polizei, wahrscheinlich "Faschist der ersten Stunde", bevor er zur Brigade Ettore Muti wechselte. Diese Brigade, eine Sondereinheit der politischen Polizei unter Mussolini, war berüchtigt für ihre brutalsten Terroraktionen und Folterungen gegen Partisanen und Zivilbevölkerung.
De Luca gibt gelegentlich an, nur "Kopfarbeit" geleistet zu haben und nie persönlich an Folterungen beteiligt gewesen zu sein. Er hat selbst alles darangesetzt, um von dieser Sondereinheit wieder als Kommissar in die Quästur versetzt zu werden.
Doch diese Zeit bei der Brigade und die ständige Angst, von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden (Sein Name erscheint auf einem Kommunique des nationalen Befreiungskomitees im Rahmen der großangelegten Säuberungsaktion von den Faschisten an fünfter Stelle, was einem Todesurteil gleichkommt), hat eindeutig gesundheitliche Spuren hinterlassen. Vorwiegend zeigen sich psychosomatische Symptome: Schlaflosigkeit durch Albträume, dadurch ständige Müdigkeit untertags, Magenkrämpfe, Appetitlosigkeit, oft mürrisches, aufbrausendes Verhalten. Er ist unausgeglichen, gelegentlich autoritär.
Sein persönlicher Umgang mit seiner Vergangenheit ist vor allem in Österreich seit der sog. "Affäre Waldheim" und den daraus entstandenen unterschiedlichen Diskussionsansätzen wohlbekannt:
"Gewisse Dinge habe ich nie gemacht! Ich habe nur meinen Beruf ausgeübt, ich bin Polizist, das ist alles."
"Als ich zur Sondereinheit der Muti gerufen wurde, bin ich sofort gerannt. Weil dort gut gearbeitet wird, verstehst du? Dort war alles äußerst effizient, sie hatten die besten Detektive, die besten Karteien, es gab die nötigen Mittel...Der Beruf des Polizisten ist schon immer so gewesen, und es ist das, was ich immer gemacht habe. Ein Polizist hat keine politischen Entscheidungen zu treffen. Er soll einfach seine Arbeit gut machen."
Die Figur des Kommissar De Luca ist meiner Meinung nach Lucarelli hervorragend und besonders glaubwürdig gelungen: In aller seiner Widersprüchlichkeit, seinen gesundheitlichen Problemen, seinem Verhalten. Er ist nicht der Superkommissar (Trotz seiner besonderen kriminalistischen Fähigkeiten), unangreifbar und immer im Recht, sondern er ist eigentlich ein Mensch wie wahrscheinlich viele andere auch in dieser Zeit - nicht nur in Italien - mit seiner Vergangenheit und seinem persönlichen schuldhaften Verhalten (Doch wer wirft den ersten Stein?).
Carlo Lucarelli, Elster
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