Des Hauses Hüterin
- Droemer Knaur
- Erschienen: Januar 2003
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- München: Droemer Knaur, 2003, Seiten: 350, Übersetzt: Antoinette Gittinger
- München: Knaur, 2005, Seiten: 428
Am Ende und zu allem entschlossen
Jean ist 64 Jahre alt. Ohne Verwandte und Freunde lebt sie ein freudloses Leben als "Haussitterin”: Reiche Leute heuern sie über eine Agentur an, während des Urlaubs ihr Heim zu hüten. In 18 Jahren hat Jean 57 solcher Jobs übernommen. Nun will sie die Agentur aus Altersgründen vor die Tür setzen. Das wird Jean keinesfalls dulden, denn sie hat nicht das Geld für einen erfreulichen Ruhestand.
Zudem gefällt ihr Walden Manor, das 58. und letzte Haus ihrer Laufbahn, ganz ausgezeichnet. Hier will sie eigentlich gar nicht mehr ausziehen. So sehr wünscht sich Jean ein Zuhause, dass ihr Verstand darunter leidet. Sie beschließt, Walden Manor zu "übernehmen”. Den Gedanken an die Rückkehr der Eigentümer verdrängt sie. Statt dessen richtet sie sich als "Hausherrin” ein.
Drei traurige Musketiere
Ihr Wahn geht so weit, dass sie sich den Sohn erträumt, den sie nie hatte. Jean gibt sogar eine Suchanzeige auf. Es meldet sich Michael, ein Kleinkrimineller, dem das Wasser bis zum Hals steht. In seinem Schlepptau: die junge Stephanie, die sich hochschwanger bei ihm eingenistet hat.
Drei Verlierer haben sich gesucht - und gefunden! Jean weiß genau, dass Michael keineswegs ihr "Sohn” ist. Auch Michael sieht sich sofort durchschaut. Doch das Trio bleibt beieinander und in Walden Manor. Dort träumen sie sich in eine ländliche Idylle und blenden die Realität aus. Doch die begehrt bald Einlass. Geldmangel zwingt zum Verkauf kostbarer Einrichtungsgegenstände. Misstrauische Besucher begehren Einlass und fragen nach den Hauseigentümern. Stephanies Baby kommt krank zur Welt und stirbt.
Immer tiefer verstricken sich Jean, Michael und Stephanie in ihrem Lügennetz. Es kommt der Zeitpunkt, da sich die Illusion nur gewaltsam erhalten lässt. Das Schlimmste aber steht noch bevor - die Rückkehr der eigentlichen Herren von Walden Manor! Allerdings haben sich die neuen Bewohner auch für diesen Fall einen - recht drastischen - Plan einfallen lassen ...
Das Leben kennt keine Gewinner
Dies ist ganz sicher keine Lektüre für einen entspannten Leseabend. Tatsächlich hinterlässt "Des Hauses Hüterin” einen ziemlich deprimierenden Eindruck. Morag Joss unterhält uns hier nicht mit einem harmlos-netten britischen "Landhaus-Krimi”, obwohl das Ambiente diesen Eindruck erwecken könnte. Statt dessen präsentiert sie einen lupenreinen Psycho-Thriller, dessen Handlung sich primär in den Köpfen der Figuren abspielt.
Dass diese Geschichte einfach nicht gut oder "happy” enden kann, ist schon nach kurzer Lesezeit sicher. Allzu düster und konsequent erzählt Joss ihre Geschichte von drei Verlierern, die auch endlich einmal ihren Zipfel von der Wurst erhaschen wollen und dabei jegliches Maß verlieren.
Denn Glück oder auch nur Zufriedenheit sieht die Gesellschaft nicht vor für Außenseiter wie Jean, Michael und Stephanie. Sie sind überflüssige Existenzen, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen; "White Trash” würde man sie in den US-Südstaaten wohl nennen. Wie man das "Spiel” um Wohlstand und Akzeptanz spielt, das wissen sie einfach nicht. Für solche Pechvögel sieht die Gesellschaft eine unauffällige Randexistenz in Armut und Elend vor.
Wer nichts zu verlieren hat ist gefährlich
Diese drei Loser sind freilich ein bisschen zu weit ins Abseits gedrängt worden. Vor allem Jean will nicht mehr vegetieren wie bisher. Sie beschließt sich zu nehmen, was sie vermisst und begehrt. Damit wäre sie rasch gescheitert, ließe ihr das Schicksal nicht Michael und Stephanie über den Weg laufen.
Zu dritt potenzieren sich Frustration und Rücksichtslosigkeit. Aus einem traurigen Trio wird eine echte Gefahr für jene, die sich an die "Regeln” halten. Jean und ihre Gefährten haben eine Linie überschritten. Ihr Weg führt sie immer tiefer in den Abgrund. Sie schaffen dies lange zu verdrängen, aber als das nicht mehr geht, geben sie keineswegs auf. Statt dessen sind sie bereit, auch die letzte Grenze zu übertreten. Gnade Gott denen, die sich ihnen auf diesem Weg in den Weg stellen!
Die Geschichte dieser Eskalation wird trügerisch langsam und sanft erzählt. Dabei lässt Joss weder ihren Figuren noch ihren Lesern ein Schlupfloch. Steinchen für Steinchen baut sie einen Albtraum auf, aus dem es kein Erwachen geben wird. Das Tempo zieht an, je weiter unser Trio seine Spielchen treibt. Immer hektischer werden die Versuche, die Illusion am Leben zu erhalten, während die böse Außenwelt immer energischer das Refugium Walden Manor stürmt.
Perfiderweise hofft und bangt man mit der mörderischen Truppe. Zu eindringlich hat uns Joss drei jämmerliche Lebensgeschichten verdeutlicht. Wir wünschen Jean und den anderen ihr kleines Glück, und es bedrückt uns das Wissen, dass sie es doch niemals genießen werden!
Immer auf die Kleinen ...
Nicht sehr oft werden uns Krimilesern Identifikationsfiguren von solcher Ambivalenz vorgestellt. Auf der einen Seite sind Jean, Michael und Stephanie eindeutig arme Schweine, die niemals eine Chance im Leben hatten, sondern stets darum betrogen und vom Pech verfolgt wurden.
Gleichzeitig tragen sie selbst sehr wohl Schuld an ihrem Schicksal. Niemand hat beispielsweise Jean wirklich zu ihrem freudlosen Dasein gezwungen. Sie hatte durchaus die Möglichkeiten, sich einen bescheidenen Platz an der Sonne zu erobern. Statt dessen gab sie der bösen Welt die Schuld und begnügte sich damit, von einem schönen Leben nur zu träumen. Vergessen sollte man auch nicht, dass Jean Konflikten lieber aus dem Weg geht - und dabei eine Energie entwickelt, die überlegten Mord als Möglichkeit einschließt.
Aber Jean ist unzweifelhaft eine kranke Frau. Dass sie ihr kriminelles Wirken bis zum bitteren Ende fortsetzen kann, liegt vor allem an ihrer Unauffälligkeit. Niemand interessiert sich für Jean - außer Michael und Stephanie, womit das Verhängnis seinen Lauf nehmen kann.
Kein Platz für Außenseiter
Sowohl Michael als auch Stephanie sind wie Jean keine angenehmen Zeitgenossen. Besonders Michael neigt zu Selbstmitleid und Weinerlichkeit. Seine Lebensuntüchtigkeit ist erschreckend. Noch fragwürdiger erscheint Stephanie. Es gibt nur eine Konstante in ihrem trüben Dasein: Sie hat es noch jedes Mal versaut.
Morag Joss vermeidet rührselige Mitleidsszenen oder Anklagen, die sehr wohl möglich wären und sich gegen die verpfuschte Sozialpolitik richten könnten. Fakt ist - und dies geht über Großbritannien hinaus -, dass die Politik und die nicht betroffene Gesellschaft es satt sind, sich um das hilflose "Pack” zu kümmern. Michael erfährt es exemplarisch am eigenen Leibe: Er wird durch die Mühlen des Gesetzes gedreht und gerät immer tiefer in Schulden und Strafen, obwohl der Justiz sonnenklar ist, dass er niemals diesen Teufelskreis sprengen kann, wenn ihm nicht geholfen wird.
Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass Jean, Michael und Stephanie sich nicht mehr herumschubsen lassen wollen. Zumindest Jean weiß dabei sehr genau, dass die Flucht vor der Realität nur befristet bleiben kann. Das System wird immer siegen und sie für ihre "Anmaßung” doppelt strafen. Deshalb ist es Jean, die weiß, was zu tun ist, als der Zeitpunkt der Abrechnung naht. Konsequent wendet sie dabei an, was sie früher in auswegloser Situation gelernt hat und komplettiert so das durch und durch finstere Finale dieser Geschichte, die von der britischen "Crime Writers Association” (CWA) als zweitbester Roman des Jahres 2003 mit dem "Silver Dagger” ausgezeichnet wurde.
Morag Joss, Droemer Knaur
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