Leichensache
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2003
- 9
- München: Goldmann, 2003, Seiten: 288, Originalsprache
Ein aus dem Leben gegriffener Kriminalfall
Aus dem Kreise seiner deutschsprachigen Autorenkollegen hat Norbert Horst 2004 die höchste Ehre erhalten, die er für seinen Debütroman bekommen konnte. Anfang Mai durfte er sich über den Debüt-Glauser für seinen Erstling Leichensache freuen. Da Horst selber bei der Polizei arbeitet - früher selbst in Mordkommissionen, heute in der Personalfortbildung - verfügt er über nicht zu verachtende Insiderkenntnisse, die der Leser dieses Romans nicht übersehen kann.
Kriminalkommissar Konstantin Kirchenberg ermittelt die Umstände des Mordes an einer jungen Studentin, die von ihrer Freundin in der gemeinsamen Wohnung tot aufgefunden wurde. Die Freundin stand außerdem dem Täter verstört gegenüber, der durch die offene Terrassentür floh. Die auf der Leiche sichergestellten Spermaspuren sind jedoch nicht in der Gen-Datenbank verzeichnet. Auch die Vernehmung von Zeugen und ein Phantombild bringen Kirchenberg und seine Sonderkommission jedoch nicht weiter. Wohl aber wurde ein einzelner Herrenschuh am Tatort gefunden, auf dem sich auch Sperma findet, allerdings von einer anderen Blutgruppe. Wenn es der Schuh des Täters sein sollte, bliebe somit das Rätsel, warum fremdes Sperma unter den Sohlen klebt. Andererseits würden dann wiederum die aus einer nahen Schrebergartenlaube geklauten Gummistiefel ins Bild passen. Kein schweres Rätsel, das Kirchenberg da lösen muss.
Modern erzählt
Horst schreibt wie er spricht. Kurze und prägnante Sätze, Präsens, Ich-Erzähler (ohne inflationäre Verwendung des "Ichs"). Während der Leser sich zunächst einige Seiten mit diesem Schreibstil, der zwar modern, aber doch immer noch eher die Ausnahme ist, anfreunden muss, nimmt das Erzähltempo dann recht bald ein hohes Tempo auf. Er beschreibt aus der Sicht seines Helden was dieser sieht, hört, spricht und vor allem denkt. Und diese Gedanken schweifen gerne schon mal ab, dann versinkt der Kommissar in Tagträumereien und sexuellen Phantasien, vergisst er alles um ihn herum. Der Erzählstil ist ein ganz großes Plus dieses Romans.
Was immer wieder für Irritationen sorgt ist die gandenlose Einbringung von Abkürzungen aus dem Berufsalltag der Polizei. Abteilungen oder Fachbegriffe werden im Kollegenkreis mit zwei oder drei griffigen Buchstaben bezeichnet. Für Polizisten kein Problem, aber der Roman wird auch von Nicht-Polizisten gelesen, und die wissen dann im Zweifel nicht, wofür TO, POM, DGL-Raum, ED oder MK stehen. Jedoch wird dadurch, wie auch durch die gelegentliche Einstreuung von Aktenvermerken und Besprechungen, der Polizeialltag, der Umgang im Kollegenkreis, sehr lebensecht wirkend beschrieben.
Kommissar mit Haarfetisch
So authentisch wie der Arbeitsalltag bei der Polizei wirkt auch die Figur des Konstantin Kirchenberg (Herrgott, warum hat der bloß so einen besch...eidenen Namen?). Er ist mitnichten der absolute Superheld, nein, der Leser lernt ihn auf der ersten Seite kennen, als er spätnachts aus der Wichskabine eines Sexshops stolpert. Die Erfüllung, die er in seinem Beruf findet, sucht er in seinem Privatleben vergebens. Er teilt das Schicksal so vieler Ermittler, ist gleichzeitig in seiner Einsamkeit und seinem Egozentrismus aber auch Abbild eines Teiles unserer Gesellschaft (und deshalb so echt). Neben seinen unverhohlenen sexuellen Phantasien - er hat einen Fetisch für Körperbehaarung, mag beispielsweise Frauen mit Achselhaaren - kommt aber auch zum Vorschein, wie wenig er von den Menschen weiß, mit denen er täglichen Umgang pflegt. Dies kommt insbesondere in überraschenden Erkenntnissen über seinen alkoholkranken Nachbarn zum Ausdruck. Kirchenberg ist ein tiefgründiger Mensch, auch wenn es ihm wohl die meiste Zeit zu anstrengend erscheint, tiefgründig zu sein.
Ehrlicher Krimi ohne Heldenpathos
Vielleicht relativiert dies auch den wohl größten Kritikpunkt, nämlich dass die Figuren der Handlung zu wenig greifbar werden. Einzig Kirchenberg sticht heraus, die anderen Figuren bleiben blass, Namen sind beliebig ersetzbar, niemand hinterlässt bleibenden Eindruck. Aber auch hiermit kann uns der Autor einen Spiegel der Gesellschaft vorhalten. Bleiben denn nicht auch in unserem Arbeitsleben die meisten Bekanntschaften oberflächlich?
Norbert Horst zeigt mit seinem Debütroman Potenzial. Sein Kirchenberg hat das Zeug, in die Fußstapfen anderer, erfolgreicher Ermittler aus deutscher zu treten. In Ansätzen mag man ihn vielleicht mit einem Wilsberg vergleichen können. Auch ein Vergleich innerhalb der Sub-Genres Polizeiroman sei erlaubt, vielleicht am besten an einem Kontrastpunkt festgemacht. Denn während ein Horst Eckert in seinen Polizeiromanen zumeist in zwei oder drei Handlungssträngen mehrere Antihelden mit privaten Problemen und krummen Deals in den Reihen der Polizei beschreibt, findet man bei Norbert Horst einen Helden ohne Pathos in einem größtenteils integeren Team und eher eine Konzentration auf die Beschreibung, wie sich eine typische Mordfahndung Schritt um Schritt entwickelt. Ein ehrlich und authentisch wirkender Krimi, der mit interessanten Einblicken aufwartet und auf eine Fortsetzung hoffen lässt.
Norbert Horst, Goldmann
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