Der Hüter des Kelchs
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1968
- 3
- London: Jarrolds, 1931, Titel: 'Look to the Lady', Seiten: 288, Originalsprache
- München; Wollerau: Goldmann, 1968, Titel: 'Achten Sie auf die Dame', Seiten: 189, Übersetzt: Alexandra & Gerhard Baumrucker
- Zürich: Diogenes, 1990, Seiten: 280, Übersetzt: Edith Walter
- München: Goldmann, 2002, Seiten: 282, Übersetzt: Alexandra & Gerhard Baumrucker
Ein nostalgischer, zudem hochkarätiger Lesespaß!
Mr. Albert Campion ist seit jeher das schwarze Schaf seiner hochadligen Familie, die ihn deshalb auch prompt verstoßen hat. Nun verdingt er sich als privater Ermittler, der auch dort seiner kriminalistischen Arbeit nachgehen kann, wo die Polizei versagt. Campion hat dank seines bodenständigen "Partners", des ehemaligen Einbrechers Lugg, einen guten Draht zur Unterwelt. So hat er von der Existenz der "Firma" erfahren. Diese Verbrecherbande arbeitet für hoch angesehene, schwer reiche, absolut skrupellose Kunstsammler, die ihrer Sammlung Stücke einverleiben wollen, die sich in Privatbesitz befinden oder in Museen hängen: Sie werden schlicht gestohlen.
Niemand konnte der "Firma" bisher Einhalt gebieten. Aufgrund der Protektion von ganz Oben ist die Polizei machtlos. Nun erging ein neuer "Auftrag" an die "Firma": Der berühmte Kelch von Gyrth soll geraubt werden. Seit Jahrhunderten befindet er sich im Besitz der gleichnamigen Familie, die ihn in "The Tower", dem Stammsitz nahe der Gemeinde Sanctuary in der Grafschaft Suffolk, aufbewahrt. Ein uralter Geheimverträge verpflichtet die Gyrthes den Kelch für die Krone zu hüten. Verschwindet er, verlieren sie Rang und Besitz.
Wer ist Freund, wer Feind?
Kein Wunder, dass die Aufregung groß ist, als Campion berichtet, dass die "Firma" bereits "The Tower" und Umgebung zu infiltrieren beginnt. Wer ist Freund, wer Feind? Campion findet einen Verbündeten in Valentine Gyrth, dem Sohn und Erben des derzeitigen Baronets. Dieser hat sich zwar mit dem Vater zerstritten, kehrt jetzt aber zurück, als die Familienehre in Gefahr gerät.
Dass diese Sorge nicht unbegründet ist, belegt das unkluge Verhalten der verschrobenen Lady Diana. Valentines törichte Tante hat sich selbst zur "Kelchjungfrau" ernannt und zusammen mit dem Kelch fotografieren lassen. Nun weiß die Welt, welcher Schatz "The Tower" in seinem Mauern hegt. Diana bleibt von Vorwürfen jedoch verschont; als Valentine und Campion anreisen, hat man sie gerade tot auf einer Waldlichtung gefunden. Die "Firma" ist schon aktiv geworden - und sie will den Kelch offenbar um jeden Preis: schlecht für Campion & Co., die weiterhin absolut keine Ahnung haben, wer ihre Gegner sind!
Im klassischen Kriminalroman ist die Welt noch in Ordnung
Glückliches Großbritannien: Hier ist zumindest im klassischen Kriminalroman die Welt noch in Ordnung. Ein Verbrechen kann das nur kurzfristig stören. In so einer Umgebung möchten wir globalisierungsgestressten, outgesourcten Gegenwärtler insgeheim auch gern leben. Deshalb lesen wir so gern Romane wie diesen. Alle von den Fans so heiß geliebten Elemente eines zünftigen "Whodunit"-Thrillers werden von der Verfasserin kundig beschworen. Da haben das kleine, idyllische, von der Zeit offenbar vergessene Dorf auf dem Land, über dem ein feudaler, von einem verwunschenen Wald umgebender Landsitz thront, der über einen Turm mit Geheimkammer verfügt.
Der Plot ist dieser Umgebung angemessen. Vor Urzeiten hat ein frühmittelalterlicher Eroberer in "The Tower" einen Schatz verborgen, von dessen Existenz die englische Monarchie abhängt. Ein kompliziertes, höchst archaisches Ritual ist damit für jene verbunden, die ihn hüten. Die Vergangenheit ist und bleibt präsent, als sich nun gierige Diebesfinger nach dem wertvollen Kelch ausstrecken.
Ein leibhaftiges Gespenst mischt sich ein
Hüten können diesen natürlich nur Adlige reinsten Geblüts, die dann ruhig reichlich verschroben sein dürfen. Es ist unter diesen Umständen überhaupt kein Stilbruch, dass sich ein leibhaftiges Gespenst ins Geschehen einmischt. Auch eine Hexe, ein Dorftrottel, ein zerstreuter Professor, romantisch-verwegene Zigeuner, pittoreske Schurken und andere absolut unrealistische, aber allerliebst agierende Gestalten haben ihre großen Auftritte.
Eine riskante Geschichte, stets haarscharf am Rande der Lächerlichkeit balancierend: Das Talent der Autorin führt dazu, dass wir uns statt dessen durchweg gut amüsieren. Margery Allingham leugnet nie die Märchenhaftigkeit ihres Kelch-Krimis - sie ignoriert sie einfach bzw. präsentiert noch die haarsträubendsten Ereignisse mit dem berühmt-berüchtigten britischen Ernst, hinter dem sich knochentrockener Humor verbergen kann. Solche Meisterschaft und Dreistigkeit zugleich im Spinnen absurder Garne kennt man sonst nur von John Dickson Carr (1906-1977), der gruselige Burgen und Ruinen liebte und doch immer wieder streng rational denkende Detektive ihre Geheimnisse lüften ließ. In dieser Beziehung geht Allingham noch einen Schritt weiter: Die Präsenz des Übernatürlichen fügt sie geschickt ins Geschehen ein. Das hätte Carrs Dr. Fell niemals gestattet!
Hexenhatz und Massenprügeleien
Verfolgungsjagden, Massenprügeleien, nächtliche Hexenhatz, Entführungen, Todesfallen - auch sonst lässt Allingham ihre Leser nie zur Ruhe kommen. Albert Campion kommt kaum zum Kombinieren. Für einen angeblich vergeistigten, weichlich wirkenden Ermittler ist er ziemlich rege, reist inkognito mit Zigeunern im Land umher, verfügt über bemerkenswerte Verbindungen zur Prominenz seines Heimatlandes in Politik und Gesellschaft. Kein Wunder, ist er doch selbst so etwas wie ein Königskind, das sich zwar von seiner Familie losgesagt hat, aber dennoch seine Adelspflichten erfüllt. Um seine ehrwürdige Verwandtschaft nicht vor der Öffentlichkeit zu düpieren, hat er sich ein "bürgerliches" Leben und einen neuen Namen zugelegt. Die ihm in die Wiege gelegten Kontakte kombiniert er mit seinen kriminalistischen Talenten. Das ist für den "echten" Blaublütler praktisch: Selbst das Königshaus bemüht Albert Campion, wenn es heikle Verbrechen zu klären und Skandale zu verhindern gilt, denn er ist offiziell zwar persona non grata, aber trotzdem "einer der Jungs" & ein Gentleman, mit dem man sich abgeben kann.
Campion ist wie so viele Detektive der "klassischen Ära" ein Abkömmling von Sherlock Holmes. Allingham bemüht sich zwar ihn menschlicher wirken zu lassen, aber da ist einerseits doch eine Grenzlinie, hinter der sich der "wahre" Albert Campion verborgen hält. Andererseits finden wir halt doch viele Holmes-Elemente wieder, wenn wir nach ihnen Ausschau halten.
Lugg ist Campions "Watson"
Einen Watson besitzt Campion auch. Den hat Allingham allerdings völlig neu gestaltet. Lugg zeichnet ganz sicher nicht die Taten seines Herrn für die Nachwelt auf. Er schreibt (oder denkt) nicht, er handelt. Als waschechter Angehöriger der Unterschicht und geläuterter Krimineller verfügt er über Mutterwitz, Schlauheit und Mut. Allingham hat ihn bemerkenswert freigeistig gestaltet - keine Spur vom typischen Herr-Diener-Verhältnis, wie es z. B. Dorothy Sayers' Lord Peter Wimsey und Bunter verbindet. Campion und Lugg haben viel miteinander erlebt; sie sind Freunde geworden, so weit dies das starre britische Kastensystem möglich macht.
Frauen sind im klassischen Thriller üblicherweise schmückendes Beiwerk. Auch Allingham hütete sich ihre zeitgenössischen Leser zu vergrämen. Emanzipation im eigentlichen Sinn wird man daher nicht finden. Allerdings deutet der Originaltitel unseres Abenteuers bereits an: Die Verfasserin ist sich durchaus der Tatsache bewusst, dass ihre Geschlechtsgenossinnen nicht nur deshalb auf dieser Welt wandeln, um von guten Männern vor bösen Kerls gerettet zu werden ...
Margery Allingham, Goldmann
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