Die Schatulle
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1995
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- London: Hodder & Stoughton, 1952, Titel: 'The Brading Collection', Seiten: 256, Originalsprache
- München: Goldmann, 1995, Seiten: 283, Übersetzt: Susanne Althoetmar-Smarczyk
- Philadelphia: Lippincott, 1950, Titel: 'The Brading Collection', Seiten: 255, Originalsprache
Mord & Liebe im Schatten des Juwelen-Bunkers
Lewis Brading hat sein Leben der gleichnamigen Sammlung geweiht. Sie besteht aus kostbaren Juwelen mit düsteren Vorgeschichten, die sich meist um Raub, Betrug und Mord drehen. Für seine Schmuckstücke hat Brading vor seinem Landhaus eigens einen bunkerähnlichen Anbau mit dicken Wänden und ohne Fenster errichten lassen. Ein Gang mit Glasfenstern führt zur schwer gesicherten und einzigen Tür, hinter der Brading hockt und sich an seinen Schätzen weidet.
Sein zweites Hobby bringt Brading den Tod: Er liebt es, seine Mitmenschen zu kontrollieren und drangsalieren. Wer bei ihm bleibt, ist in der Regel von ihm abhängig und muss dafür teuer bezahlen. Aktuell will der Menschenfeind allerdings die schöne Maida ehelichen, weshalb Verwandte und Freunde der Familie Warne House in der englischen Grafschaft Ledshire bevölkern. Sogar Stacy Mainwaring, die vor Jahren Bradings Cousin Charles Forrest verließ, ist anwesend; die bekannte Malerin soll ein Porträt des ehemaligen Varieté-Stars Myra Constantine anfertigen.
An einem heißen Augusttag fällt in der Schatzkammer ein Schuss. Lewis Brading sitzt tot am Schreibtisch. Sämtliche Sicherheitsvorkehrungen waren aktiviert: Er muss seinen Mörder selbst eingelassen haben. Gestohlen wurde nichts, doch in einem Aschenbecher finden sich Reste eines womöglich geänderten Testaments, das der Mörder verbrannt hat.
Der Fall geht an die örtliche Polizei. Als Unterstützung schickt Scotland Yard Randal March. Er kommt nicht allein, sondern bringt als Unterstützung seine ehemalige Gouvernante mit: Maude Silver hat umgesattelt und ist eine bekannte Privatermittlerin geworden, die sich trügerisch als harmlose alte Lady tarnt, um Verdächtige mit allzu wasserdichten Alibis zu täuschen. Deren Schar ist dieses Mal besonders kopfstark und schließt Cousin und Haupterbe Forrest, Sekretär Moberly sowie die Braut ein ...
Verbrechen als Rätselspiel
Man kann es mit der Konstruktion eines"unmöglichen" Mordes offensichtlich übertreiben. Zu diesem Schluss kommt der leicht irritierte Leser, der sich bis zum Finale dieses Romans vorgekämpft hat. An dessen Anfang standen eine böse Vorahnung und eine unglücklich geendete Love-Story. Die eine kündigte wirkungsvoll hässliche Ereignisse an, die andere ließ den Krimifreund Ungutes schwanen: Es kommt nie etwas Gutes dabei heraus, wenn Spannung und Liebe allzu entschlossen miteinander gekreuzt werden. Die Anhänger/innen des "Lady Thrillers" werden dem zwar energisch widersprechen, doch dieser Rezensent ist Purist, und da er diesen Text verfasst, darf & wird er seinem entsprechenden Unmut Luft machen.
Grundsätzlich macht es Patricia Wentworth durchaus richtig. Wen wundert's, gehört sie doch zum Grundgestein jener englischen Autoren, die den klassischen Rätselkrimi bekannt und berühmt gemacht haben. Freilich blieb Wentworth nicht vor dem üblichem Problem gefeit: Mit den Jahren fiel es ihr schwerer und schwerer, das Genre originell zu bereichern. Außerdem war sie eine fleißige Autorin, die nur begrenzte Zeit auf jeden Roman verwendete. Die offensichtliche ‚Lösung' brachte Romane wie Die Schatulle hervor: Krimis, die zwar den bekannten "Whodunit"-Vorgaben entsprachen, aber vor allem dank einschlägiger Routinen über die Runden gebracht wurden.
Bereits die Krimi-Handlung fordert dem Leser beachtliche Zugeständnisse ab. Wer den klassischen "Whodunit" kennt, wird diese Aussage bemerkenswert finden; schließlich spielt Die Schatulle in einer Genre-Welt, die Geheimtüren und -gänge, Gespenster als Mörder oder sonstige Übernatürlich- und Sonderbarkeiten als normale Stilmittel einsetzt. Offensichtlich kommt es jedoch auf die Mischung zwischen Scheinwelt und Realität an; verlässt man sich allzu stark auf die reine Exotik des Tatorts, will sich der wohlige Schauder gepflegten Schreckens nicht einstellen.
Mord im Juwelen-Bunker
Die Kulisse ist in der Tat vor allem bizarr: Lewis Brading baut sich einen Bunker für seine Schätze. Dicke Mauern, keine Fenster, eine aufwändig gesicherte Tür, die nur über einen verglasten und daher gut einsehbaren Gang erreichbar ist. Wentworth fehlt das Talent, diese Merkwürdigkeit glaubwürdig darzustellen. Zu deutlich wird der eigentliche Anlass: Hier soll ein Tatort geschaffen werden, der den begangenen Mord faktisch unmöglich macht.
Bis Brading stirbt, zieht sich die Handlung erstmals in die Länge. Wentworth wechselt zum zweiten Handlungsstrang und erzählt von der gescheiterten Ehe zwischen Stacy Mainwaring und Charles Forrest. Dies stellte Anno 1952 ein wesentlich ernsthafteres Problem dar als in der Gegenwart. Zumindest dies entschuldigt die Intensität, mit dem Wentworth sich ihm widmet. Ungeachtet dessen langweilen die daraus resultierenden Herz-Schmerz-Beschwerden den weniger seelengeeichten Leser.
Hinzu kommt die ausführliche Vorstellung von Figuren, die für die Handlung eigentlich nicht von Interesse sind. Man kann nur vermuten, dass Wentworth auf diese Weise falsche Fährten legen wollte: Die Gruppe der Verdächtigen ist so groß, dass der Täter/die Täterin darin verschwinden. Zwar ist die Methode legitim. Leider sind die von Wentworth gezeichneten Figuren in der Mehrheit langweilig. Als der Mord endlich geschehen ist, rechnet der Leser erleichtert mit dem Auftritt des Detektivs und spannenden Ermittlungen, die Alibis und Lügen Stück für Stück enthüllen und eine unerwartete Auflösung präsentieren.
Heldin mit Atemproblemen
Allerdings ist die Detektivin hier Miss Maud Silver, die zumindest in ihrem bereits 17. Fall keinen positiven Eindruck hinterlässt. Silver nimmt in der Geschichte des Kriminalromans eine durchaus prominente Stellung ein. Grundsätzlich lässt sich das nachvollziehen. In ihrem Auftreten reiht sich Silver problemlos in die Reihe genialer aber exzentrischer Ermittler ein.
Die ehemalige Kinderfrau hat die Nützlichkeit einer trügerischen Maske erkannt. Deshalb kultiviert sie ihre Auftritte als betont altmodisch gekleidete und auch sonst harmlose ältere Dame. Gern kommt während einer Vernehmung das Strickzeug zum Einsatz. Deutlicher als im Fall der Miss Marple kommt dahinter jedoch der weibliche Profi zum Vorschein: Silver ist eine kühle, wenig sympathische Figur.
Damit steht sie keineswegs allein. Selbst Sherlock Holmes ist kein netter Zeitgenosse. Freilich ist er interessant, weil er Schwächen besitzt. Miss Silver lässt sich nicht hinter die Fassade blicken. Sie bleibt reine Maske. Wentworthes Bemühungen, ihr Individualität anzudichten, bleiben auf die Idee beschränkt, Silver nicht sprechen, sondern "hüsteln" zu lassen. Dieses Verb kommt in dreistelliger Zahl und oft mehr als einmal pro Seite zum Einsatz. Der Leser lernt es rasch zu hassen, was ihn und sie erst recht davon abhält, warm zu werden mit dieser Maud Silver.
Hinzu kommt eine Selbstsicherheit, die einer noch in viktorianischer Zeit geborenen Frau gut ansteht, bei Wentworth jedoch eher als Arroganz daherkommt. Silver hat offenbar ganze Generationen von Polizisten und Juristen herangezogen und geprägt. Auf dieses Netzwerk kann sie jetzt zurückgreifen, während es umgekehrt erstaunlich selbstverständlich ist, dass die Behörden Miss Silver anheuern. Vor Ort kann sie sich nach Belieben in Schweigen hüllen, bis sie allein die Zeit gekommen sieht, den Fall aufzulösen.
Reden, bis die Sinne schwinden
Die Ermittlungen gestalten sich vor allem mühselig - genau dieser Eindruck vermittelt sich dem Leser. Der Mittelteil dieses Romans wird förmlich zerredet. Was im Rätselkrimi normalerweise als elegantes Spiel inszeniert wird, bleibt hier trocken. Wentworth überschlägt sich im Bemühen, die Unmöglichkeit des Mordes weiter zu betonen. Falsche Spuren führen bemüht zu Stacy Mainwaring und Charles Forrest, die nach dem Willen der Autorin allmählich wieder zueinanderfinden und dabei dramatisch in Schwierigkeiten gebracht werden sollen.
Als Wentworth Miss Silver die Karten endlich auf den Tisch legen lässt, halten sich Überraschung und Enttäuschung die Waage: Allzu kompliziert wurde Bradings Ende nicht eingefädelt. Der Aufwand, den "perfekten" Mord zu inszenieren, sorgt nicht für ein angemessenes Ergebnis.
So erklärt Die Schatulle unfreiwillig, wieso Miss Marple ungleich präsenter als Miss Silver geblieben ist, obwohl beide das Licht der literarischen Welt relativ zeitgleich erblickten. Die durchaus ebenfalls professionelle Agatha Christie wusste besser, wie Scharfsinn und Exzentrik unterhaltsam zu verknüpfen war. Insofern ist es ‚gerecht', dass vergleichsweise wenige Krimifreunde hierzulande Miss Silver kennen: Eine Begegnung mit Miss Marple ist schlicht erfreulicher.
Patricia Wentworth, Goldmann
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