Beethovens Locke. Eine wahre Geschichte
- Piper
- Erschienen: Januar 2000
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- München; Zürich: Piper, 2000, Seiten: 299, Übersetzt: Inge Leipold
- München; Zürich: Piper, 2002, Seiten: 299
1827 wurde Ludvig van Beethoven auf dem Totenbett von einem Verehrer eine Locke vom Haupt geschnitten. 1995 tauchen diese Haare wieder auf und werden zum Mittelpunkt einer Untersuchung, welche die wahre Ursache von Beethovens Ende klären soll. Gleichzeitig werden aufwändige Recherchen betrieben, um den historischen Weg der berühmten Locke in die Gegenwart nachzuzeichnen. - Autor Russell Martin folgt beiden Expeditionen in die Vergangenheit, die rasch den Charakter kriminalistischer Nachforschungen annehmen. Trotz der lückenhaften Quellen können die meisten Rätsel gelöst werden. Wie das gelang (und manchmal auch nicht), schildert Martin in dieser spannenden, manchmal etwas pathetischen Mischung aus Sachbuch und Thriller.
Zwischen zwei historischen Daten spannt sich der Bogen unserer wahren Geschichte: An einem Abend im März 1827 erliegt in Wien der geniale Komponist Ludwig nach Beethoven einem schweren Leberleiden. Vor seinem Ende hat er noch mehrfach Besuch empfangen. Unter seinen Gästen: der15-jährige Ferdinand Hiller, ein hoffnungsvolles musikalisches Talent, und dessen Lehrer Johann Nepomuk Hummel. Sie dürfen auch von der im Schlafzimmer aufgebahrten Leiche Abschied von Beethovens nehmen.
Bei dieser Gelegenheit nimmt der junge Hiller ein Andenken an sich. Von Beethovens Haar schneidet er sich, wie es Brauch ist zu jener Zeit, eine Locke ab, die er in einem Medaillon birgt, Zeit seines Lebens hoch in Ehren hält und seinen Nachkommen vererbt, die das gute Stück ebenfalls schätzen. Doch in den turbulenten Jahren des II. Weltkriegs verschwindet diese Reliquie aus der Geschichte, bis sie 1995 plötzlich auf einer großen Versteigerung angeboten wird.
Noch immer steckt Magie im Namen Ludwig van Beethoven. Ein erfolgreicher Unternehmer und ein Arzt aus den USA, beide erklärte Jünger des Meisters, können ihr Glück kaum fassen und ersteigern das Relikt. Die Medien bekommen Wind von der Sache; Beethovens Locke wird öffentlichkeitstauglich, zumal ihre neuen Besitzer Großes planen: Die Haare werden wissenschaftlich untersucht. Endlich soll geklärt werden, woran Beethoven wirklich starb.
Ein historisches Rätsel mit kriminalistischen Zügen zeichnet sich ab. Unter den interessierten Journalisten befindet sich Russell Martin aus Colorado. Er beschließt die Geschichte von Beethovens Locke zu rekonstruieren bzw. die Bemühungen jener zu schildern, die sich auf zwei Kontinenten an die schwierige, fast unmögliche Aufgabe begeben, die bruchstückhaften Quellen und wenigen Zeitzeugen zu befragen.
Während in Europa kleinste Informationsfragmente entdeckt und zusammengesetzt werden, unterziehen Wissenschaftler an verschiedenen Orten der USA die Locke komplizierter Untersuchungen. Sie müssen Jahre forschen, bis feststeht: Die Haare stammen in der Tat von Beethovens Schädel - und sein Besitzer ist offensichtlich einer langjährigen Bleivergiftung erlegen!
Auf einer Glatze kann man manchmal tatsächlich Locken drehen, um einen alten Aphorismus von Karl Kraus zu bemühen. Oder anders ausgedrückt: Wer hätte gedacht, dass eine kleine Haarlocke eine Heerschar von Fachleuten, Geschäftsmännern und Zeitzeugen auf Trab halten und Grundlage für ein 300-seitiges Buch werden kann?
Russell Martin beweist, wie es geht. Er sah die Geschichte hinter der Locke und hat sie gründlich recherchiert. Jetzt erzählt er sie in einfachen Worten als "Geschichte zum Anfassen", wobei seine Begeisterung hier und da ein wenig zu deutlich durchklingt bzw. von Hollywood inspiriert wird, aber dieses Buch soll sich schließlich verkaufen.
"Beethovens Locke" ist keine Chronik. Martin springt zwischen den Zeiten; er folgt dem Weg der kostbaren Haarsträhne durch die Jahrzehnte, greift aber kapitelweise immer wieder zurück auf die Biografie Ludwig van Beethovens. Das ist vor allem für den Laien wichtig: Die Bedeutung Beethovens für die Musikgeschichte wird nicht in Zweifel gestellt, aber selten wirklich verstanden. Das ist aber die Voraussetzung dafür zu verstehen, wieso ein paar Haare solche Bedeutung erlangen können. Beethoven ist ein historische Gestalt von Format - zudem eine, die nicht durch Kriegszüge oder ähnliche "Heldentaten", sondern als Künstler ihre prominente Stellung erlangte.
Die Geschichte der Locke ist zugleich die Geschichte Mitteleuropas. Immer wieder geraten ihre jeweiligen Besitzer in den Strudel zeitgenössischer Entwicklungen. Dramatisch wird es 1943, als Beethovens Haare unter ungeklärten Umständen ihren Besitzer wechseln: In Gilleleje, einem kleinen dänischen Fischerdorf an der Nordspitze Seelands, geschieht es, als nazideutsche Besatzer dänische Juden zusammenzutreiben. Unter den Verfolgten befinden sich auch Nachfahren von Ferdinand Hiller. Haben sie sich mit der Locke ihre Flucht und damit ihr Leben erkaufen können?
Der Versuch der Rekonstruktion dieser Ereignisse gewinnt unter Martins Feder Thrillerqualitäten. Weniger die Locke steht noch im Mittelpunkt, sondern das Schicksal von Menschen, die zum Spielball des Schicksals werden. Vieles bleibt ungeklärt, aber gleichzeitig kommt Erstaunliches zum Vorschein. Der mögliche letzte Besitzer der Locke aus dem Hiller-Clan begann in den USA ein neues Leben - unter dem Namen Marcel Hillaire ließ er sich in Los Angeles nieder und wurde Schauspieler, der bis zu seinem Tode 1988 in zahlreichen Kinofilmen (wie "Sabrina" mit Humphrey Bogart und Audrey Hepburn) und TV-Shows mitwirkte.
Die eigentliche Untersuchung der Locke inszeniert Martin als uramerikanische Erfolgsstory: Zwei Selfmade-Geschäftsmänner wie aus Uncle Sams Bilderbuch setzen ihr Vermögen selbstlos zum Wohle der Menschheit (bzw. ihrer Landsleute) ein. Sie kaufen Beethovens Locke und gründen ein eigenes Forschungsinstitut. Weihevoll und pathetisch werden ihre Aktivitäten verklärt, unschöne Reibereien oder die Tatsache, dass die beteiligten Fachleute nach der Pfeife ihrer Geldgeber zu tanzen haben, nur angedeutet. Martin hat seine Helden gefunden, und vielleicht hat er ja Recht: Wenigstens dieses Mal ist die schwierige Vereinigung von Begeisterung, Wissenschaft und Kommerz gelungen.
Beethovens Locke, das macht Martin deutlich, ist eben nicht nur Reliquie, sondern als solche auch Katalysator. Noch heute kann sie die Menschen begeistern und bewegen. Nachzulesen wieso dies so ist bereitet Vergnügen. Eine Bildstrecke gibt den meisten an dieser historischen Episode Beteiligten ein Gesicht. Der Fachmann vermisst einen Anmerkungsapparat, der womöglich aus Ersparnisgründen verlagsseitig unterschlagen wurde. Die Übersetzung ist gediegen; beim Leser stutzt und stolpert man nicht, was heutzutage schon ein lobende Erwähnung Wert ist ...
Russell Martin, 1952 in Durango/ Colorado geboren, studierte am Colorado College und arbeitete als Reporter und Redakteur. Heute gibt er Kurse über kreatives Schreiben und unterrichtet Englisch am Colorado College. Er lebt als freier Autor in Salt Lake City und Denver und hat mehrere Sachbücher und Romane sowie zahlreiche Artikel veröffentlicht.
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