Selbstmord kommt vor dem Fall
- Rowohlt
- Erschienen: Januar 1965
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- New York: Simon & Schuster, 1962, Titel: 'Like Love', Seiten: 223, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1965, Seiten: 125, Übersetzt: Lieselotte Julius
- Frankfurt am Main; Berlin; Wien: Ullstein, 1974, Seiten: 124, Übersetzt: Liselotte Julius
- Frankfurt am Main; Berlin: Ullstein, 1989, Seiten: 125, Übersetzt: Liselotte Julius
Ein weiteres Muss für den Freund des Polizeiromans!
Frühling in Isola, der großen Stadt, die irgendwie an New York erinnert. Für die Männer vom 87. Polizeirevier beginnt er alltäglich und hässlich: Ein Pechvogel von Vertreter wird durch eine Gasexplosion in Stücke gerissen. In den Trümmern der verwüsteten Wohnung findet man zwei weitere Leichen: Der junge Tommy und die noch jüngere Irene haben offenbar den Gashahn aufgedreht; ein Abschiedsbrief, der ihre unmögliche Liebe beklagt, wird gefunden.
Routine also für Steve Carella und Cotton Hawes, die mit dem Fall betraut werden. Doch die erfahrenen Männer stoßen bei ihren Nachforschungen auf seltsame Widersprüche. So schildern ihre Familien die Verstorbenen keineswegs als lebensmüde Zeitgenossen. Im Gegenteil: Irene schöpfte gerade neuen Lebensmut, nachdem sie sich entschlossen hatte, ihren ungeliebten Gatten Michael Thayer für besagten Tommy zu verlassen. Dieser wird wiederum von seinem jüngeren Bruder Amos als Ausbund schierer Lebensfreude geschildert.
Widerwillig den Doppeltod zu den Akten gelegt
Folgerichtig gerät Thayer ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Doch es ergeben sich keine echten Verdachtsmomente. Neue Fälle drängen, deren Aufklärung realistischer erscheint. Der pflichtbewusste Carella muss den Doppeltod schließlich widerwillig zu den Akten legen, weigert sich aber ihn zu vergessen.
Als er eines Tages wieder einmal Amos Barlow befragen möchte, wird er vor dessen Haustür von einem Unbekannten angegriffen und übel zusammengeschlagen. Kaum ist er halbwegs genesen, wird die Attacke wiederholt. Ist der Polizist einer unerfreulichen Lösung ein Stück zu nahe gekommen? Die Wahrheit ist eine Überraschung. Vor allem ist sie jedoch traurig und banal - eine Miniatur-Tragödie, ein modernes Großstadtdrama, dessen Aufklärung den chronisch überlasteten Beamten des 87. Reviers wenig Befriedigung bringt ...
Die traurige Welt des banalen Alltagsverbrechens
Ihr fünfzehnter Fall stürzt die Männer vom 87. Revier wieder einmal mitten in die traurige Welt des banalen Alltagsverbrechens. Sie bekommen es mit einem Mörder zu tun, der nicht genial ist, sondern so in erster Linie von der "Unwichtigkeit" seiner Opfer profitiert: Eigentlich interessiert es niemanden, was wirklich geschehen ist. Ein Selbstmord käme den Behörden sogar ganz gut gelegen, denn neue Fälle drängen bereits wieder.
Im Mittelpunkt steht weniger die Suche nach dem Täter, sondern der recht triste Alltag überarbeiteter Polizisten. Steve Carella und seine Kollegen sind durchaus fähig und guten Willens; sie haben freilich fast schon kapituliert vor der Flut ihrer Aufgaben. Lässt sich ein Verbrechen nicht praktisch auf Anhieb klären, gerät es zwar nicht in Vergessenheit, aber es wandert in den Schrank mit den ungelösten Fällen. Dort ist es für einen Übeltäter wunderbar aufgehoben.
Die Polizei als notwendiges Übel, als Sündenbock
Dass Carella, Meyer, Kling oder Hawes ihren Instinkt den Sachzwängen nicht unterwerfen möchten, beschert ihnen viele Überstunden und ein schwieriges Privatleben. Aber auch im Job dürfen sie nicht mit Zuspruch rechnen. Die guten Bürger von Isola lieben ihre Polizei nicht, sondern nehmen sie als notwendiges Übel hin, nutzen sie gern als Sündenbock oder treten ihr offen feindselig gegenüber.
Polizeiarbeit: Das bedeutet ständiges Pflaster- und Treppentreten, vergebliche Anrufe, ins Leere laufende Nachforschungen, Druck von Angehörigen, Vorgesetzten, unwilligen Zeugen, den Medien - und oft genug dann, wenn man am wenigstens damit rechnet, ein Schlag aus dem Hinterhalt oder Schüsse durch geschlossene Türen.
Die Hose noch in der Hand ab aufs Revier
Kein Wunder, dass diese Polizisten auch nach Feierabend nur bedingt abschalten können. Den Schlüssel zur Auflösung findet Cotton Hawes ausgerechnet im Bett seiner Lebensgefährtin, die darob die Liebesnacht vergessen kann: Ihr Galan stürzt, die Hose noch in der Hand, zurück ins Revier; er kann nicht anders.
Die Erklärung des "Selbstmords" ist denkbar simpel. Der Mörder ist nicht der Hellste, besonderes Fachwissen hat er bei seiner Tat auch nicht an den Tag gelegt. Als sich die Polizei endlich auf den doppelten Todesfall konzentriert, dauert es denn auch nur kurze Zeit, bis die Profis den Fall knacken. Es hätte aber auch anders kommen, der Mörder entkommen können.
Die Sicht der Realität durch den Filter eines spannenden Kriminalromans
Ed McBain zeichnet hier scheinbar ein düsteres Bild des Polizeialltags in einer Großstadt der frühen 1960er Jahre. Das ist nur teilweise seine Absicht. Primär zeigt er seine Sicht der Realität, gesehen durch den Filter eines spannenden, unterhaltsamen Kriminalromans. Die dem Geschehne innewohnende Tragik wird immer wieder durch trockenen, manchmal schwarzen Humor gebrochen. In den späteren Episoden um das 87. Revier scheut McBain auch vor Absurditäten nicht mehr zurück: Die Welt ist ein Tollhaus, in dem die Polizei mühsam ihren Teil dazu beiträgt, den Wahnsinn im Zaum zu halten. Dass dieser mehr oder weniger abfärbt, kann da nicht ausbleiben.
Noch verhalten, aber schon deutlich bricht McBain in "Selbstmord kommt vor dem Fall" mit der Tradition, dass Krimis stets abgeschlossene Geschichten erzählen. Statt dessen "montiert" er mehrere Handlungsstränge, die im Finale nicht gänzlich zusammenlaufen, sondern durchaus offen bleiben bzw. in späteren Romanen der Serie aufgegriffen werden können. Diese "überlappende" Erzählweise ist im heutigen TV-Serienkrimi Standard, aber noch gar nicht so alt.
Ein Ensemble gleichberechtigter Darsteller
Die Romane um das 87. Polizeirevier werden nicht von einem Genie-Cop und seinen willigen Wasserträgern getragen, sondern von einem Ensemble gleichberechtigter Darsteller. Obwohl sie im Laufe vieler Jahrzehnte nie alterten, repräsentieren die Männer (inzwischen sind übrigens auch Frauen zu ihnen gestoßen) des wohl berühmtesten Reviers der Krimiwelt den idealen "normalen" Polizisten, der seine Pflicht tut und dessen Tätigkeit die dafür gebührende Anerkennung bereits in sich birgt.
Zwar gibt es in den späteren Romanen um das 87te durchaus auch korrupte Cops, aber solche "Abweichungen" betreffen nie das "Kernteam" um Steve Carella. Der ist noch heute angenehm altmodisch seiner taubstummen Göttergattin Teddy in glühender Liebe zugetan und ansonsten absolut unbestechlich.
Die Illusion einer "reinen" Bruderschaft pflichtbewusster Ordnungshüter
Im Jahre 1962 war diese Sicht auf die Polizei noch üblich. Das Wissen um durchaus existente Missstände wurde der Illusion einer "reinen" Bruderschaft pflichtbewusster Ordnungshüter geopfert - und zwar wissentlich. (Davon hat sich McBain übrigens niemals lösen können. Die Skandale späterer Jahre, die Korruption, Rassismus und ähnliche beklagenswerte Polizeisünden offenbarten, werden nicht wirklich von ihm thematisiert.)
Dennoch weigert sich McBain, die Stadt als heile Welt zu schildern, in der Verbrechen die Ausnahme bilden, die stets rasch von der Polizei aufgeklärt werden. Statt dessen gehen desillusionierte Männer einem beinharten Job nach. Carella & Co. sind vom Sinn ihres Tuns zwar insgesamt noch überzeugt. Im Detail haben sie jedoch längst Federn gelassen. Für einen überführten Täter tauchen zwei Nachfolger auf. Der Job ist meist eine elende Tretmühle, die Ermittlungsarbeit wird von Sparzwängen und Vorschriften erschwert, an die sich die Verbrecher nie halten müssen.
Die Ritter vom 87. Revier
Aber noch halten die Ritter vom 87. Revier die Stellung. (Und noch gibt es keinen Fat Ollie Weeks, Isolas Geißel der Polizei des 21. Jahrhunderts: faul, reaktionär, verlogen - McBains Symbol für gewisse Negativelemente seiner geliebten Polizei.) Sie opfern ihre Gesundheit, das Privatleben dem Dienst. Trotzdem sind sie nie Roboter einer vorgegaukelten Ideal-Realität, sondern sympathische Durchschnittsfiguren, deren Denken und Handeln man jederzeit nachvollziehen kann und mag.
Gleichzeitig sind McBains Schurken weder Helden noch tragische Opfer. Sie schliddern wie Amos Barlow mit meist erschreckenden Beiläufigkeit in ein Verbrechen. Der McBainsche Übeltäter ist zudem nie übermenschlich schlau noch vor entlarvenden Zufällen gefeit. (Eine Ausnahme gibt es: den charismatischen "Tauben", nie gefasster Super-Verbrecher, der dem 87. Revier gleich mehrfach arg zu schaffen macht.) Nicht die personifizierte Gerechtigkeit - ein Chimäre besonders rechtskonservativer Kreise - entlarvt sie, sondern in der Regel eigenes Ungeschick sowie die harte Arbeit der Polizei.
Ed McBain, Rowohlt
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