Tödliche Fremde
- Fischer
- Erschienen: Januar 2003
- 3
- New York: Walker, 1997, Titel: 'A Wasteland of Strangers', Seiten: 257, Originalsprache
- Frankfurt am Main: Fischer, 2003, Seiten: 415, Übersetzt: Cornelia Holfelder-von der Tann
- Frankfurt am Main: Fischer, 2015, Seiten: 416
Lakonisch, spannend, empfehlenswert
Pomo ist ein Städtchen irgendwo am Nordrand des Sonnenstaates Kalifornien. Viel ist hier am Rand der Wildnis nicht mehr los, die Rezession herrscht. Viele Geschäfte stehen leer, der Wirtschaft geht es schlecht. Unzufrieden, neidisch und gereizt sind jene, die es sich nicht leisten können fortzuziehen. Das Geld ist knapp, der Alkohol billig, Schusswaffen und das Verprügeln der Ehefrau sind des Bürgers liebe Hobbys.
Das Establishment des Ortes hat seinen Glanz verloren. Storm Carey, die reichste Frau der Stadt, ist nach dem Tode ihres Gatten der krankhaften Nymphomanie verfallen. Mit den meisten Männern in Pomo hat sie bereits geschlafen, was dem Dorffrieden wenig zuträglich ist. Storms Verehrer bilden einen hilflosen Club von Verlierern, Säufern, Ehebrechern und kleinen Gaunern.
Pomo ist ein Pulverfass
Pomo ist also ein Pulverfass, das der überforderte und ausgebrannte Sheriff Novak nur mühsam unter Kontrolle behält. Damit ist es allerdings vorbei, als John Faith in seinem alten Porsche in die Stadt kommt - ein großer, übel aussehender, unfreundlicher Mann, der sich den neugierigen Bürgern verweigert. Niemand kennt ihn, aber alle brennen darauf zu erfahren, was Faith nach Pomo treibt. Offenkundig sucht er etwas oder jemanden, taucht überall und nirgendwo auf.
Faith lässt sich weder von feindseligen Städtern noch vom Sheriff einschüchtern oder von seiner mysteriösen Mission abbringen. Der stets geilen Storm Carey gibt er einen Korb, schafft sich weitere Feinde, verbreitet Furcht, ohne dass ihm ein Verbrechen nachzuweisen wäre. Das ändert sich schlagartig, als ein Maskierter des Nachts den Frauen Pomos aufzulauern beginnt. Eines Tages wird Storm Carey brutal vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Der Tat Verdächtige gäbe es viele - sogar der Sheriff gehört zu ihnen -, aber es gibt den perfekten Sündenbock: John Faith... Die Jagd ist eröffnet, aber das Wild lässt sich nicht so einfach fangen. Ganz ohne Verbündete ist Faith zudem nicht, was wichtig wird, als die Lage eskaliert und weitere Opfer gezählt werden...
Ein Konzept aus schnörkellosen B-Filmen
Ein Fremder kommt in eine Stadt, die etwas zu verbergen hat - ein bekanntes Konzept, das vielleicht am besten im schnörkellosen B-Film zum Tragen kommt. "Tödliche Fremde" erinnert stark an "Bad Days at Black Rock" (1955, dt. "Stadt in Angst") mit Spencer Tracy, weist aber auch Züge von "High Plains Drifter" (1973, dt. "Ein Fremder ohne Namen") von und mit Clint Eastwood auf: John Faith trägt zwar einen Namen, ist jedoch zunächst ohne Identität, und er jagt den Bewohnern von Pomo Angst ein, weil sie aus diversen Gründen schlechte Gewissen haben und sich von Faith bedroht fühlen.
Der verbreitet nicht absichtlich Angst und Schrecken. Faith ist eher ein Katalysator, der die Lunte ansteckt, die schon lange gen Pomo führt. Zu viele unterdrückte Gefühle, zu viele schwelenden Konflikte, zu viel Frustration und Zorn hat sich hier angesammelt. Zur Explosion wäre es ohnehin gekommen, aber nun ist mit Faith der (scheinbar) ideale Sündenbock in die Stadt gekommen.
Der Weg in die Katastrophe - meisterhaft geschildert
Der Weg in die Katastrophe wird von Bill Pronzini meisterhaft geschildert. Er macht uns mit Pomo und seinen Bürgern vertraut, indem er jedes Kapitel seiner Geschichte von einer anderen Person erzählen lässt. Der Sheriff, die bald verblichene Storm Carey, ihre diversen Geliebten und weitere Bürgerinnen und Bürger - sie alle berichten scheinbar von ihren Erlebnissen mit dem Furcht einflößenden John Faith, tatsächlich geben sie aber sich und den Alltag in der vom Schicksal und seinen Bewohnern verfluchten Stadt Pomo preis.
Das tun sie lakonisch und ohne Beschönigungen. Pomo ist eine regelrechte Brutstätte enttäuschter, ausgebrannter, desillusionierter Gestalten. Manchmal ist ihnen ihr Elend selbst nur dumpf bewusst; dann beschreibt uns Pronzini ihr Handeln, das die Ratlosigkeit verrät. Andere wiederum wissen sehr wohl, was sie umtreibt, ohne jedoch dagegen angehen zu können. Storm Carey ist beispielsweise in der Tat mannstoll, doch Pronzini weiß uns deutlich zu machen, dass dies ein Zwang ist, der sein Opfer wie ein Dämon peinigt und schließlich in den Untergang treibt.
Pronzini spielt mit den Klischees
Helden gibt es nicht in Pomo. Geschickt spielt Pronzini mit entsprechenden Klischees. Der Sheriff, theoretisch Vertreter von Recht & Gesetz, sitzt mit im Boot der Verdammten. Die Lehrerin, als Indianerin bzw. "nordamerikanische Ureinwohnerin" politisch korrekt zur Gutfrau veredelt, ist nicht wirklich frei von Vorurteilen. Der Journalist, der eigentlich der Wahrheit verpflichtet sein sollte, ist längst zum zynischen Alkoholiker verkommen. Der Bankchef ist ein Spieler und hat Kundengelder unterschlagen.
So geht es immer weiter die soziale Stufenleiter hinab. Unten treffen wir auf Unterschicht-Proleten, auf weniger verschrobene als hasserfüllte Außenseiter, auf zu kurz Gekommene und Geprügelte, die ihren Teil dazu beitragen, diese kleine Stadt in eine Hölle auf Erde zu verwandeln. Wir schaudern vor ihnen zurück, aber wir verstehen sie auch: Pronzini vermeidet simple Schwarz-Weiß-Zeichnungen und schafft sensibel glaubhafte Charaktere.
Das Finale bringt keine Reinigung und keinen Neuanfang
John Faith ist - es klang bereits an - für Pomos Bürger die ideale Projektionsfigur für ihre unbewältigten Konflikte. Aber Strafe muss sein - in die Enge getrieben zahlt Faith es seinen Peinigern heim so gut es geht. Wieder einmal bleibt die Erlösung aus. Das Finale bringt keine Reinigung und keinen Neuanfang für Pomo. Nur wenige haben ihre Lektion gelernt. Die Mehrheit überlebt - bloß: wofür?
"Ödland der Fremden" hat Bill Pronzini selbst seinen Thriller genannt. Dieser Titel fasst den Inhalt vorzüglich zusammen: Die Bürger von Pomo, die doch seit Jahr und Tag Tür an Tür leben, sind tatsächlich einander stets fremd geblieben. Und mit der Öde, die Pronzini anspricht, ist nicht die karge Wüstenlandschaft gemeint, sondern die Leere, die in den Herzen und Seelen der Menschen herrscht. Das mag pompös klingen - vor allem, weil Pronzini doch "nur" einen Krimi (ohne Detektiv oder Polizisten im Mittelpunkt) geschrieben hat -, aber es trifft den Kern.
Bill Pronzini, Fischer
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