Das Buch in dem die Welt verschwand

  • Droemer Knaur
  • Erschienen: Januar 2003
  • 20
  • München: Droemer Knaur, 2003, Seiten: 448, Originalsprache
  • München: Knaur, 2004, Seiten: 492, Originalsprache
  • München: Knaur, 2005, Seiten: 492, Originalsprache
  • München: Droemer, 2007, Seiten: 492, Originalsprache
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Michael Drewniok
90°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2004

Ein Roman, der Anspruch mit hohem Unterhaltungswert kombiniert!

Eines Wintertages im Jahre 1780 wird der junge Arzt Nicolai Röschlaub aus Nürnberg vom Kammerherrn Selling in das Schloss des Grafen Alldorf gerufen, der seit längerer Zeit unpässlich ist. Röschlaub findet den Adligen tot, vergiftet - ein Selbstmord, nachdem Alldorf die Qualen einer mysteriösen Krankheit nicht länger ertragen konnte. Vor ihm waren ihr schon sein beiden Kinder und die Gattin zum Opfer gefallen.

Aus einer Tragödie wird ein Skandal, als sich herausstellt, dass Alldorf im großen Stil Immobilienschwindel und Kreditbetrug betrieben und eine ungeheuerliche Geldsumme zusammengetragen hat, die nach seinem Tod verschwunden ist. Offenbar gehörte der Graf einer obskuren Geheimorganisation an, die Übles gegen den Kaiser plante.

Ein Fall für Giancarlo Di Tassi

Bald ist Röschlaub wieder im Schloss. Der gefürchtete Giancarlo Di Tassi, Justizrat des Reichskammergerichts zu Wetzlar, hat sich des Falls angenommen. Gerade hat man den inzwischen verschwundenen Selling aufgefunden: grausam ermordet und verstümmelt, zu Füßen der Leiche eine bewusstlose Frau, die alles mitansehen musste. Magdalena Lahner ist für den notorisch misstrauischen Di Tassi sehr verdächtig. Um sie, in die er sich umgehend verliebt, zu schützen, aber auch um seine Karriere in Gang zu bringen, lässt sich Röschlaub als Berater des Justizrates anwerben. Freilich hat er keine Ahnung, dass dieser auch ihn für einen Komplizen des Grafen hält.

Gemeinsam untersuchen Di Tassi und Röschlaub eine Serie seltsamer Postkutschen- Überfälle: Nichts wird geraubt, nur die Kutschen samt Ladung in Brand gesteckt. Es ergibt sich ein Muster: ein gigantisches, auf den Kopf gestelltes Kreuz, das ganz Deutschland erfasst! Aber das ist nur eines der unzähligen Rätsel, vor das sich die Ermittler gestellt sehen. Hinter jedem Mysterium tut sich ein neues Geheimnis auf. Für Röschlaub wird aus Spiel Ernst, als er erkennt, dass auch Di Tassi keineswegs der ist, für den er sich ausgibt. Gemeinsam mit Magdalena flieht er vor dem übermächtigen Feind, um nun selbst der Sache auf den Grund zu gehen - doch wer ist eigentlich Magdalena, die so viel mehr weiß als sie bisher zugab ...?

Die gerade skizzierte Handlung gibt nur einen Bruchteil des Gesamtgeschehens wieder. "Das Buch, in dem die Welt verschwand" weist einen komplexen (und komplizierten) Plot auf, der manchmal hinter diversen Erzählsträngen schwer zu erkennen bleibt. So ist es freilich vom Verfasser geplant: Seine Geschichte dreht sich weniger um die Macht obskurer Geheimbünde, sondern mehr um die Kraft oder die Ohnmacht von Ideen.

Als Kriminalstory mit Mystery-Touch fabelhaft

Als reine Kriminalstory mit Mystery-Touch funktioniert "Das Buch ..." über drei Viertel seines Umfangs fabelhaft. Selten liest man - zumal in Deutschland - ein Werk, das so geschickt konstruiert und elegant geschrieben wurde. Der Fan des Genres wird nicht vermissen, was er (oder sie) so liebt: Illuminaten, Rosenkreuzler & andere kapuzinierte Munkelmänner, Meuchelmörder, Räuber, Verschwörer, Geheimagenten, Intriganten, eine Maschine zum Sternenstaubsammeln, das alles dargeboten in der Welt des Jahres 1780. Jede Person spielt ein doppeltes, dreifaches Spiel, niemandem kann getraut werden, eine Hitchcocksche Atmosphäre des Misstrauens ist allgegenwärtig.

Es macht Freude diesen Thriller zu lesen, der sich so geschickt einer vergangenen Zeit zu bedienen weiß. Das alte Deutsche Reich in seinen letzten Zügen, ein seltsames Konglomerat aus unzähligen mittelgroßen, kleinen und kleinsten Fürstentümer und Kirchenstaaten, freien Städten und Abteien, in ihrer Gesamtheit notdürftig als "Deutschland" unter einen Hut gebracht, tatsächlich aber hoffnungslos untereinander konkurrierend, sich verbündend, streitend ... Das Leben muss vor allem für den, der viel reiste, ein Albtraum gewesen sein. Fleischhauer lässt seinen Nicolai Röschlaub diese Erfahrung mehr als einmal machen.

Viele Ereignisse knüpfen an diesen seltsamen territorialen Flickenteppich an, können sich nur hier so abspielen. Die oft bizarren Auswirkungen wirken in diesem Umfeld ganz natürlich, zumal Fleischhauer sein Wissen um die Vergangenheit nie aufdringlich doziert, sondern unauffällig in die Geschichte einfließen lässt. Das gilt ebenso für die politischen, religiösen oder wissenschaftlichen Entwicklungen dieser Epoche. Wir erkennen rasch, wieso der Autor sein Garn gerade gegen Ende des 18. Jahrhunderts spielen lässt.

Die Nahtstelle zwischen Absolutismus und Aufklärung

Dies ist die Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Absolutismus und Aufklärung. Auf der einen Seite symbolisiert das Deutsche Reich noch das Mittelalter mit seiner Adels- und Kirchenherrschaft, seinen Glauben an Geister und Hexen, an die Unwandelbarkeit der Welt. Auf der anderen Seite steht die neue Zeit, deren Repräsentanten sich nicht mehr mit der alten Ordnung abfinden wollen. Die Wissenschaft schreitet voran, politisch weht in Preußen und besonders in Frankreich ein frischer Wind. Die Kirche kann ihre Vormacht nicht mehr halten, die Protestanten sind eine Macht geworden, die sich gegen Rom zur Wehr setzen kann.

Alle Fixpunkte der (deutschen) Existenz sind ins Rollen und Rutschen geraten. Um die Konsequenzen geht es in diesem Roman. Die Vertreter der alten Ordnung kämpfen gegen ihre Angst, dass deren Untergang das Ende der Welt einläuten wird, und natürlich für ihre Privilegien. Dagegen verlangen die Repräsentanten der Moderne den rigorosen Schnitt mit der Vergangenheit, der ihrer Meinung nach der Menschheit den Start in eine glanzvolle Zukunft ermöglichen wird.

Des Lesers Irritation entsteht aus Unwissen

"Das Buch, in dem die Welt verschwand", verfasst vom Philosophen Immanuel Kant, ist Fleischhauers Symbol für den daraus erwachsenen Konflikt. Die Auflösung der unzähligen Geheimnisse wird viele Leser verwirren. Ihre Irritation entsteht aus Unwissen. Kann denn eine Idee eine ganze Welt aus den Angeln heben? Die Angst davor Menschen umbringen? Es fällt schwer nachzuvollziehen, dass dies wirklich geschehen ist. Zwar überspitzt Fleischhauer aus Gründen der Dramatik die reale Historie, doch es ist eine Tatsache, dass schon das Deutschland von 1835 - dem Datum der Rahmenhandlung - keine Ähnlichkeit mehr mit dem Deutschland von 1780 aufweist. Letzteres ist nach Fleischhauer in der Tat in einem Buch verschwunden - eine interessante, ungewöhnliche Interpretation, die nachhaltiger wirkt als das übliche Schlussgemetzel zwischen "Gut" und "Böse".

Nicolai Röschlaub, unser "Held", ist in vielerlei Hinsicht ein reiner Tor. Er ist keineswegs dumm, aber sehr naiv. Mit anderthalb Beinen steht er bereits in der neuen Zeit. Die Ränken in Politik und Gesellschaft sind ihm fremd, für ihn steht die unverfälschte Wahrheit im Vordergrund. Deshalb hat er mit seinen eigenen medizinischen Forschungen kläglich Schiffbruch erlitten - nicht weil er falsch liegt, sondern weil er nicht über das diplomatische Geschick verfügt, diese Wahrheit über die richtigen Kanäle zu verbreiten.

Echter Forschergeist lässt sich nicht unterdrücken

Aber echter Forschergeist lässt sich nie wirklich unterdrücken. Bald spürt Röschlaub neuen Krankheitserregern nach. Dieses Mal bleibt er bis zum bitteren Ende dabei. Das widerstrebt seinem eigentlichen Wesen, aber es bleibt ihm gar nichts Anderes übrig. Siehe da, in der Krise entwickelt Röschlaub Überlebensqualitäten. Und zuletzt ist er es, der das Geheimnis des Buches nicht nur entdeckt, sondern überlebt und sogar profitiert.

Magdalena scheint zunächst die übliche weibliche Hauptrolle an der Seite von Röschlaub zu spielen. Auch hier durchbricht Fleischhauer das Klischee: Das angebliche Opfer entpuppt sich als religiöse Fanatikerin und gehört auf ihre Art in dasselbe Lager des Feindes wie Di Tassi. Beide wollen sie die alte Ordnung - ihre alte Ordnung - retten, fürchten sich vor einer Zukunft, die sie nicht mehr lenken, in der sie nicht mehr bestimmen können.

Wobei Di Tassi die politische Reaktion repräsentiert. Er spielt viele Rollen, dient aber letztlich dem Kaiser, das heißt dem Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen pompöser Titel mit der traurigen Realität kaum noch etwas gemein hat. Fortschritt ist für Di Tassi per se gefährlich und muss aufgehalten werden. Als ihm das nicht mehr gelingt, verschwindet er spurlos aus unserer Geschichte.

Das Buch in dem die Welt verschwand

Wolfram Fleischhauer, Droemer Knaur

Das Buch in dem die Welt verschwand

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