Sanftes Unheil
- Scherz
- Erschienen: Januar 1960
- 1
- New York: Knopf, 1958, Titel: 'The Doomsters', Seiten: 251, Originalsprache
- Bern; München; Wien: Scherz, 1960, Titel: 'Schuldkonto der Vergangenheit', Seiten: 191, Übersetzt: Bernhard Kempner
- Zürich: Diogenes, 1984, Seiten: 264, Übersetzt: Monika Schoenenberger
Der schmale Grat zum Wahnsinn
Ein Detektiv freut sich immer über neue Kunden. Sobald sich jemand wie Lew Archer dann auch für die Geschichte begeistern kann, die der neue Klient ihm erzählt, spielen so einige Rahmenbedingungen dann auch keine Rolle mehr. Dass der Mann nämlich ungefragt in seine Wohnung eingedrungen ist. Dass der Mann nämlich aus einer geschlossenen Psychiatrie geflohen ist. Dass der Mann nämlich auf der Rückfahrt zu eben jener psychiatrischen Anstalt Lew Archer überrumpelt und ihm seinen fahrbaren Untersatz kurzerhand entwendet. Denn bei Archer konnte Carl Hallmann bis zu diesem Zeitpunkt soviel Interesse entfachen, dass er die Nachforschungen aufnimmt.
Carl Hallmann, der vermeintlich psychisch Kranke, ist der jüngere Sohn von Senator Hallmann, der durch geschickte Landenteignung eine riesige Zitrusplantage im kalifornischen Hinterland zusammengegaunert hat. Nach seinem Tod, für den Carl sich verantwortlich fühlt, sorgte sein älterer Bruder zusammen mit dem Familienarzt für die Einweisung Carls. Doch Carl fühlt sich gesund und glaubt nach den Berichten eines Tom Rica, mit dem er zusammen aus der Psychiatrie geflohen ist, dass es jemand auf das Familienerbe abgesehen hat. Und da Flucht Carls für erheblich Unruhe gesorgt hat, sind binnen weniger Stunden noch zwei weitere Tote zu beklagen: Carls älterer Bruder Jerry und wenig später auch dessen Frau.
24 Stunden voller Action und Tiefgründigkeit
Wieder einmal bringt Ross MacDonald die Besonderheiten der menschlichen Psyche in intensiver Form in die Handlung seines Romans ein. Natürlich ist Carl Hallmann mit seinem unkoordiniert wirkenden Handeln hier der Mittelpunkt seiner Schilderungen. Auch wenn es sich bei ihm offenbar wirklich um einen zumindest psychisch labilen Zeitgenossen handelt, gelingt es dem Autor tatsächlich und eindringlich, diesen Charakter aus der Perspektive Lew Archers letztlich plastisch und nachvollziehbar zu schildern. Auf dem Feld der psychologischen Tiefgründigkeit vollbringt MacDonald ein weiteres mal eine Meisterleistung.
Die gesamte Handlung der 280 Seiten spielt innerhalb 24 Stunden. In einer unglaublichen Dichte prasseln die Ereignisse aufeinander. Die Prügeleien, in die Archer verwickelt wird, gehören einfach zu den Krimis dieser Epoche und wirken heutzutage vielleicht ein wenig unangebracht. MacDonald übertreibt es hier aber nicht so wie in "Küste der Barbaren". Womit der Autor jedoch ein wenig zu großzügig umgegangen ist, ist die Red- und Vertrauensseeligkeit der Menschen, denen Archer über den Weg läuft. Keiner, der ihm nicht irgendeine Neuigkeit erzählen mag. Der Detektiv ermittelt auf einer Schnellstraße; Sackgassen gibt es für ihn nicht.
Positiv wiederum, dass der Autor wirklich jeden auftretenden Charakter gründlich und individuell zeichnet und im Grunde keinen mit einer weißen Weste stehen lässt. Das erregt beim Leser Raum für Interpretationen und Verdächtigungen, die sich alle nicht bewahrheiten sollen. Die Lösung des Familiendramas liegt - wie so oft - in der Vergangenheit und sobald Archer hier die Fakten richtig sortieren kann, findet er die richtige Erklärung und eine weitere psychisch labile Person, die sich bis dahin hinter einer gesund wirkenden Fassade verstecken konnte.
Ross Macdonald, Scherz
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