Knochenarbeit
- Blessing
- Erschienen: Januar 1999
- 35
- München: Blessing, 1999, Seiten: 415, Übersetzt: Klaus Berr
- München: Goldmann, 2001, Seiten: 415
- München: Heyne, 2011, Seiten: 448
Absolut enttäuschend Ein intelligenter Krimi
Erste Station der Handlung ist eine verlassene Kirche in der Nähe von Montreal. Dort hatte die forensische Anthropologin Tempe Brennan von der Erzdiözese den Auftrag erhalten, die Überreste einer im 19. Jahrhundert verstorbenen Frau zu exhumieren und zur Vorbereitung auf die Seligsprechung zu untersuchen. Keine problemlose Arbeit im gefrorenen kanadischen Boden, zumal das Grab an anderer Stelle gefunden wurde, als es eigentlich eingezeichnet war. Und auch die ausgegrabenen Knochen bergen noch eine Überraschung.
Doch der nächste Auftrag wartet schon. Vom gerichtsmedizinische Institur wird sie nach St. Jovite geschickt, wo ein Haus abbrannte, in dem noch einige Menschen vermutet werden. Nach und nach erweist sich die Brandstätte als Ort des Grauens. Zuerst wird im Keller eine Leiche entdeckt, von der nur wenige Knochen zu bergen sind. Am nächsten Tag werden weitere Tote gefunden, zwei Erwachsene und zwei Babies. Tempe entdeckt Grauenvolles. Den kleinen Wesen wurde bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust geschnitten.
Viel Arbeit für Tempe Brennan, die auch noch unverhofft Besuch von ihrer Schwester Harry erhält. Nach einem vergnügten Abend mit ihrer Schwester sowie Detective Andrew Ryan, der wohl auf beide Frauen ein Auge geworfen hat, wird sie auf dem Heimweg brutal überfallen. War dies ein gewöhnlicher Überfall oder sollte er mit einem ihrer Fälle zu tun haben?
Die Spuren der Opfer von St. Jovite führen Detective Ryan nach Bradford in South Carolina, ganz in der Nähe von Tempes zweitem Arbeitsplatz. Ständig pendelt sie zwischen Montreal und Charlotte hin und her, wo sie an der Anthropologischen Fakultät der Universität unterrichtet. Die Toten lebten offenbar vor einiger in einer Art Kommune, möglicherweile in einer religiösen Sekte.
Eigentlich wollte Tempe ihrem Freund Ryan nur einen Gefallen tun und ein paar Erkundigungen einziehen, wenn sie schon in der Gegend ist, doch dann finden sich auf der Insel ihres alten Freundes Sam die nächsten beiden Leichen. Wohl seit ein paar Wochen halb vergraben haben sich die Insekten schon gütlich getan an den sterblichen Überresten. Und schon wieder kommt Arbeit auf Tempe zu, die eigentlich sie gar nicht übernehmen wollte.
"Knochenarbeit" liest sich außerordentlich gut an. Überaus detailliert bekommt der Leser Einblicke in die forensische Arbeit. Es ist schon faszinierend zu erfahrend, mit welcher Akribie Leichenteile untersucht werden können und müssen, die nicht gerade mehr in gut erhaltenem Zustand sind. Als Laie ist man sich gar nicht bewusst, mit welcher Sorgfalt Knochen geborgen werden müssen, die extrem hohen Temperaturen ausgesetzt waren, damit sie nicht sofort zerfallen.
Einen großen Abschnitt reservierte die Autorin auch für eine relativ exakte Bestimmung des Todeszeitpunkts von Leichen, die über Tage oder Wochen den Witterungen der Natur ausgesetzt waren. Da sind die verschiedensten Fliegen, Maden und andere Insekten in den verwesten Leichen zu finden. Aus dem jeweiligen Vorhandensein oder auch Nicht-Vorhandensein lassen sich dann nicht nur Schlüsse darüber ziehen, wie lange der Mensch schon tot ist, sondern auch über die Tageszeit, wann die Leiche abgelegt wurde, ob der Mensch dort getötet wurde oder erst nach seinem Tod an diese Stelle transportiert wurde und manch anderes. Es lässt sich sogar feststellen, ob Drogen im Spiel waren, denn Rauschgift ist auch in den Maden nachweisbar.
Auch der Versuch einer Rekonstruktion des Gesichts einer verwesten Leiche gehört mit zu den fesselnden Schilderungen, wobei Kathy Reichs bei all diesen faszinierenden und ohne Zweifel glänzend recherchierten Tatsachen manches Mal zu viel Fachwissen voraussetzt und gelegentlich mit Begriffen jongliert, die nicht unbedingt zum Standard-Vokabular des Durchschnittsbürgers gehören.
Doch einige Datails kann man schon als sehr harte Kost bezeichnen, die nicht jedermanns Sache ist. Auf die in allen Einzelheiten erfolgte Beschreibung der Leichen der beiden Kleinkinder hätte ich auch gut und gerne verzichten können.
Aufgrund der autobiografischen Züge erscheint es fast zwangsläufig, dass die Autorin ihre Heldin in der Ich-Form das Geschehen erzählen lässt.
Kathy Reichs Schreibstil ist locker, flüssig und sehr humorvoll. Dabei macht die Autorin ausgiebigen Gebrauch von Hyperbeln, dem schriftstellerischen Stilmittel der Übertreibung oder auch Metaphern. So finden sich zum Beispiel Formulierungen wie "Dabei grunzte er wie die Seles beim Aufschlag" oder "ich war mir sicher, dass ich Frostbeulen an jedem Zeh hatte" oder etwa "ihr rechtes Lied tanzte einen Jitterbug".
Hübsch auch die Beschreibung eines frierenden Polizisten: "Ohren und Nase waren himbeerrot, und beim Sprechen quoll weißer Dampf aus seinem Mund. Ich wollte ihm sagen, er solle sich die Ohren bedecken, kam mir aber sofort vor wie meine Mutter und tat es nicht. Er ist ein großer Junge. Wenn ihm die Ohrläppchen abfallen, muß er damit zurechtkommen."
Die Darstellung der Charaktere kann man nur teilweise als gelungen bezeichnen. Die Hauptfigur Tempe ist hervorragend herausgearbeitet und sehr glaubhaft dargestellt. Trotz all ihrer Routine bei ihrer nicht immer einfachen Arbeit zeigt sie immer wieder Gefühle und bleibt sehr menschlich. Auch der Polizist Andrew Ryan und Tempes Schwester Harry sind gut beschrieben. Doch wirken dagegen viele der Nebenrollen nur sehr statisch und oberflächlich.
Aufgebaut hat die Autorin ihr Buch relativ gleich große etwa 10 Seiten lange Kapitel, die fast durchweg mit einem Cliffhanger enden, so daß man meist über die Kapitelenden hinweg liest, dann aber relativ schnell einen Einschnitt findet.
Wie eingangs erwähnt, das Buch liest sich wirklich gut an und man erwartet einiges. Es passiert auch ständig Neues. Bald schon gewinnt man den Eindruck, zuviel Neues, um einer klaren Handlung folgen zu können. Die Leichen finden sich fast schneller als der Leser das verarbeiten kann. Das Geschehen verlagert sich von Kanada in den Süden der USA, doch was auch geschieht, immer gibt es irgendwo eine Verbindung zum vorherigen Geschehen.
Die Studentin Anna in Montreal erweist sich plötzlich als Nichte einer Nonne aus der kleinen Kirche der Vorgeschichte. Und dann war Anna angeblich auch in der Sekte in South Carolina gewesen. Auch die Leichen, die auf der Insel gefunden wurden, haben eine Verbindung zu der Sekte. Und Tempes Schwester scheint wohl derweil in Montreal in einen Satanskult hinein geraten zu sein.
Das schriftstellerische Element des Zufalls wird von der Autorin eindeutig überstrapaziert. So nach und nach wird das Geschehen immer verwobener und unglaubhafter. Alles scheint mit jedem verstrickt zu sein. Das Interesse an dem eigentlichen Fall lässt von Seite zu Seite nach und je länger das Bauch dauert, um so sehnlicher wartet man auf das Ende.
Das letzte Kapitel bildet ja oft bei Kriminalromanen die Auflösung der Einzelheiten nach dem Showdown im vorletzten Kapitel. Genauso läuft das auch bei "Knochenarbeit" ab, doch ist die Schlußaction nicht gerade berauschend und über das lieblos dahingewurschelte Auflösungskapitel habe ich eigentlich nur noch gelangweilt drüber weg gelesen.
Absolut enttäuscht war ich von dem Roman, von dem ich mir eigentlich mehr versprochen habe. Doch dieses Geflecht von Handlungssträngen mit en Masse auftauchenden Leichen wirkt dermaßen konstruiert, dass auch die sympathische Heldin und ihre detailliert beschriebene Arbeit nicht mehr viel retten können. Mehr als gnädige 50 Grad kann ich dieser "Knochenarbeit" leider nicht zubilligen.
"Knochenarbeit" läßt sich kurz zusammenfassen, da die Komplexität erst im Laufe der Zeit zunimmt und ich Euch ja nicht die Spannung nehmen möchte. Tempes erste Aufgabe in Montreal ist es, die Gebeine eine Nonne zu exhumieren, die heilig gesprochen werden soll. Das Geheimnis der Toten bietet einen guten Kontrast zu ihrem nächsten Fall. Kaum hat sie die sterblichen Überreste gefunden, wird sie zur Untersuchung eines durch Brand zerstörten Hauses gerufen, in dem sieben Personen, darunter auch zwei Babys, umgekommen sind. Handelt es sich hier um einen Ritualmord?
Die Spur der Brandopfer führt sie in ihre Heimat North Carolina zu einer Kommune auf dem Land. Bei einem Besuch auf einer Insel mit einer Primatenkolonie werden zwei weitere Leichen gefunden, deren Untersuchung ebenfalls Tempe aufgebürdet wird, obwohl sie gerade ein paar freie Tage verbringen wollte. Sie vermutet bereits nach der ersten Untersuchung der Toten einen Zusammenhang mit den Toten aus Montreal, doch ist das nicht ein bißchen weit hergeholt? Abgesehen davon befürchtet sie, dass es sich bei der einen Leiche um die Nichte einer Nonne handelt, die sie bei der Exhumierung kennenlernte und die um Hilfe bat, da ihre Nichte verschwunden ist. Nicht nur Tempe begibt sich mit der Ermittlung in Gefahr, sondern auch ihre Schwester.
"Knochenarbeit" liest sich flüssig, selbst in den zahlreichen Passagen, in denen die Autorin die Arbeit und akribische Spurensuche einer forensischen Anthropologin erläutert. Man erfährt sehr viele Details über Insekten und deren Rolle bei der Verwesung von Leichen, über die Absicherung von Tatorten und die Untersuchung und Vermessung von Knochen. Auch als Laie fühlt man sich nicht gelangweilt. Allerdings sind diese Abschnitte nichts für empfindliche Gemüter, denn die Sprache ist klar und nicht beschönigend. Ein Beispiel bei einem Leichenfund: "Sie kommen besser runter. Und bringen Sie einen Löffel mit. Von dem ist nicht viel übrig." Ich muß gestehen, dass ich ein- bis zweimal doch einen leichten Würgereiz verspürte, was mich jedoch nicht davon abhielt weiterzulesen. Vergleicht man den Stil mit Patricia Cornwell, so ist Kathy Reichs noch einen Tick unverblümter. Aber auch Menschlichkeit und Emotionen bleiben nicht auf der Strecke. Aufgelockert wird das Ganze ebenfalls dadurch, dass immer wieder französische Ausdrücke in die Erzählung einfließen, die vom Übersetzer gekonnt eingebaut werden.
Neben der detailgetreuen Schilderung der forensischen Arbeit (soweit ein Laie das beurteilen kann) bietet der Hintergrund des Krimis auch ein interessantes Thema. Tempe erkundigt sich intensiv über Satanskulte und Sekten. Daneben wird auch die Primatenkolonie ausführlich geschildert, Dinge, die in unserem täglichen Leben keine Rolle spielen und den Roman alles andere als zu einem Alltagskrimi machen.
Die Spannung wird kontinuierlich aufgebaut, doch wirkt die Geschichte am Ende etwas zu konstruiert. Zunächst hält man einige Fäden in der Hand und weiß nicht, wie man sie verknüpfen soll. Die Details scheinen zunächst in keinem Zusammenhang zu stehen und Kathy Reichs tut sich etwas schwer, diesen herzustellen. Irgendwo schrieb ein Leser, die Autorin hätte bemerkt, dass der Abgabetermin für das Buch näher rückt und die Geschichte schnell beendet. Ganz so kraß empfand ich es nicht, doch ist es nicht ein großer Zufall, dass Tote in zweitausend Kilometern Entfernung miteinander in Verbindung stehen und ausgerechnet Tempe an der Untersuchung beteiligt ist? Ein paar weniger Leichen hätten dem Roman nicht geschadet und für das Ende ziehe ich einen Stern von der Höchstnote ab.
Dennoch empfinde ich "Knochenarbeit" als intelligenten Krimi, der abwechslungsreiche Kost darstellt und detaillierten Einblick in die forensische Arbeit bietet, wobei mich sein Vorgänger "Tote lügen nicht" mehr überzeugt hat.
Kathy Reichs, Blessing
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