Das falsche Urteil
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2000
- 31
- Stockholm: Bonnier, 1995, Titel: 'Återkomsten', Seiten: 314, Originalsprache
- München: Goldmann, 2000, Seiten: 309, Übersetzt: Gabriele Haefs
- Köln: Random House Audio, 2008, Seiten: 6, Übersetzt: Dieter Moor
- München: btb, 2001, Seiten: 309
- Augsburg: Weltbild, 2003, Seiten: 309
- München: btb, 2011, Seiten: 309
Unschuld und Vorurteil
Wie sehr kann man sich in einem Menschen täuschen, wie schnell neigt man zu Vorurteilen? Und heißt es nicht: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht? In Hakan Nessers "Das falsche Urteil" geht es um genau solche oberflächlichen Aspekte im menschlichen Miteinander, verstärkt durch den Zusammenhalt einer Dorfgemeinschaft.
Die Maardamer Polizei findet den stark verwesten Torso eines Mannes. Das Fehlen von Kopf Händen und Füßen erschwert die Identifizierung, zudem scheint niemand vermisst zu werden, der nur einen Hoden hatte. Nach Wochen geht der Hinweis ein, dass es sich um Leopold Verhaven handeln könne, ein Mann der zwei mal als Mörder verurteilt wurde und Haftstrafen von insgesamt 24 Jahren verbüßt hat, jedoch stets seine Unschuld beteuert hatte.
Verhaven war Zeit seines Lebens ein Sonderling und Eigenbrödler. Den Umgang mit Menschen scheute er, schon in der Schule war er ein Außenseiter. Als junger Mann wurde er als Leichtathlet berühmt, er lief auf den Mittelstrecken mehrfach Rekorde. Als er während eines Rennens zusammenbrach und des Dopings überführt wurde, endete seine Karriere abrupt, in den Zeitungen wurde er als Betrüger beschimpft. Er zieht sich auf ein Dorf zurück, betreibt eine Hühnerzucht auf einem abgelegenen Gut, wo er mit seiner hübschen Frau lebt. Die beiden streiten sich jedoch oft und es kommt auch zu Handgreiflichkeiten. Als sie eines Tages erwürgt aufgefunden wird, wird Verhaven ohne jeden Beweis in einem Indizienprozess verurteilt.
Rund 20 Jahre später - Verhaven ist inzwischen wieder auf freiem Fuß - wird erneut eine Frau aus seinem Umfeld ermordet aufgefunden. Am selben Ort wie damals und auf die selbe Weise umgebracht. Auch hier ist das Urteil schnell gefällt, Verhaven wird abermals hinter Gitter geschickt.
Wer könnte also ein Interesse haben, diesen Mann am Tag seiner Entlassung umzubringen? Wahrscheinlich doch jemand, dessen bitterer Schmerz über den Tod eines der Opfer noch immer so tief sitzt, dass er Vergeltung üben will. Auge um Auge, Zahn um Zahn? Oder gibt es noch andere mögliche Motive? Bei ihren Ermittlungen haben die Polizisten Münster, Reinhardt, Jung, deBries, Ewa Moreno und van Veeteren sehr schnell den Gedanken, dass sich eventuell ein anderer Täter hinter den Frauenmorden verbirgt, der Verhavens Schweigen erzwingen wollte. Die Indizien, die gegen Verhaven sprachen, erweisen sich als dünn und legen die Vermutung nahe, dass er wirklich unschuldig im Gefängnis gesessen haben könnte.
Je länger die Kommissare ermittelt, desto mehr folgen sie ihrem vagen Verdacht, aber auch sie finden nur Indizien und keine Beweise. Ihr Kampf gegen ein Netz aus Vorurteilen und Vorverurteilungen gleicht einem hoffnungslosen Kampf gegen Windmühlen. Die "Zeugen" in den beiden alten Mordfällen begegnen den Fragen der Ermittler mit Ignoranz und Desinteresse. Das Dorf, in dem Verhaven lebte, hat mit den falschen Urteilen seinen Frieden wiedergefunden und die Dorfgemeinschaft weigert sich einzusehen, dass der wahre Mörder möglicherweise noch immer ungestraft unter ihnen weilt.
Nesser versteht es, in diesem Buch gleich mehrere Zeitebenen miteinander zu verweben. Er schildert die Entlassung Verhavens und seinen Heimweg, dann neun Monate danach das Auffinden seiner Leiche und den Beginn der Ermittlungen, dazwischen Rückblicke auf die Zeit der Morde an den beiden Frauen. Nach und nach füttert er den Leser mit Informationen über den wahren Tathergang, ohne dabei frühzeitig die Identität des wahren Täters zu verraten.
Ebenfalls sehr gut sind Nesser die Dialoge gelungen. Der Unwillen, mit den Kommissaren zusammen zu arbeiten, ist in jedem Gespräch deutlich. Niemand möchte gerne an die alten Morde erinnert werden Ebenso merkt man den Ermittlern mitunter die Verzweiflung an. Sie spüren, dass an den beiden Urteilen gegen Verhaven etwas nicht stimmt, finden aber keinen probaten Anhaltspunkt, der ihre Vermutungen stützen könnte. Hauptperson van Veeteren, der ewig nörgelnde, ewig griesgrämige Kauz, ist durch eine Operation ans Bett gefesselt. Obwohl er nur gegen Ende des Buches agieren darf, ist er die einzige Figur, dessen Charakter in diesem Roman scharfe Konturen erhält. So sehr man den grummelnden Zyniker für seine vordergründige Art hassen kann (die dauernde Zahnstocherkauerei geht mir ja sowas von auf den Keks), kann man ihn für seine allzu menschlichen und teilweise philosophischen Gedankengänge lieben.
Die Kritikpunkte bleiben in der Zahl gering. Das Ermittlerteam ist groß und die Kommissare sind in den einzelnen Szenen eigentlich austauschbar. Keiner, der eine erkennbare Eigenart bei seinen Befragungen an den Tag legt. Die Befragung von Zeugen erschien mir einerseits zu unsystematisch, denn zu oft tauchten Namen auf, die nicht unmittelbar zugeordnet werden können. Andererseits ist dies Ausdruck für das "stochern im Nebel", die ratlose Suche nach Anhaltspunkten die den Verdacht nähren könnten. Was Nesser aber nicht vermitteln konnte ist der Grund für die Anteilnahmslosigkeit und Lethargie Leopold Verhavens bei den beiden Gerichtsprozessen, die letztlich bei beiden Veruteilungen den Richter und alle Anwesenden von seiner Schuld überzeugte. In "Das grobmaschige Netz" erzählt Nesser von einem Angeklagten und zu unrecht Verurteilten mit einem ähnlichen Verhaltensmuster, wobei der Grund dafür dem Leser nachvollziehbarer erscheint. Hier argumentiert er letztlich mit der Eigenbrödelei Verhavens und seiner empfundenen Machtlosigkeit gegen die Vorurteile der gesamten Öffentlichkeit, die aus seiner Doping-Vergangenheit beruht. Die Tatsache, dass er die ungerechte Strafe im Gefängnis in sich gekehrt und ohne Kontakt zur Außenwelt verbringt, ist letztlich wenig nachvollziehbar.
Action und Spannung sucht man vergebens in diesem Roman. Es ist halt ein typischer Nesser, wenig ausschweifend in seinen Schilderungen der Szenerie, dafür intensiver mit den Gedankengängen der Ermittler beschäftigt. Er regt daher auch den Leser zum Nachdenken über eigene Vorurteile und deren Ursachen an. Sogar über die Hauptfigur, die oberflächlich nur wenig Sympathiepunkte erzielen kann, gerät der Leser in Grübeln und man mag geneigt sein, van Veeteren am Ende doch irgendwie für seine Art schätzen zu können. Und für seine unorthodoxe Art, dem wahren Täter ein gerechtes Urteil zuteil kommen zu lassen, sollte man ihm glatt den golden Zahnstocher am Bande verleihen.
Håkan Nesser, Goldmann
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