Esau
- Wunderlich
- Erschienen: Januar 1997
- 1
- London: Chatto & Windus, 1996, Titel: 'Esau', Seiten: 356, Originalsprache
- Reinbek bei Hamburg: Wunderlich, 1997, Seiten: 507, Übersetzt: Peter Weber-Schäfer
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1998, Seiten: 507
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999, Seiten: 507
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2002, Seiten: 507
Ein bildgewaltiger, stimmungsvoller Wissenschaftsthriller
"Fehlende Bindeglieder und die Frage der Verwandtschaft des Menschen mit dem Tierreich sind immer noch von so viel magischem Glanz umgeben, dass es wohl immer schwer sein wird, das vergleichende Studium lebender oder fossiler Primaten von den Mythen zu befreien, die das unbewaffnete Auge aus einem Wunschbrunnen der Träume hervorzaubern kann. (Solly Zuckermann)" (Erster Teil: Die Entdeckung)
Die Märchen, Sagen und Mythen aller Völker sind angefüllt mit hünenhaften, beharrten Wesen. Nahezu jede Region der Welt verfügt über Geschichten dieser geheimnisvoller Tiermenschen, die auf irgendeine mysteriöse Weise den Sprung von der Vergangenheit in unsere Gegenwart geschafft haben; sei es der kanadische Sasquatch, der indianische Bigfoot, der kaukasische Almas, der australische Yowie oder als der bekannteste, der nepalesische Yeti. Man hat Fußabdrücke, Kot- und Essensreste gefunden, und es gibt verschwommene Film- und Fotodokumente, aber immer noch keinen eindeutigen Existenzbeweis.
Phillip Kerr hat sich mit dem Buch "Esau" genau dieser Materie angenommen. Es ist ihm gelungen, die Faszination, die dieses Thema ausmacht, in einem durchgehend spannenenden Roman über die gefährliche Suche nach dem Schneemenschen zu verpacken.
Der kalifornische Bergsteiger Jack Furness entdeckt bei dem Versuch der verbotenen Besteigung eines heiligen Berges der Nepalesen im Himalaya in in einer Gletscherspalte den Schädel eines Hominiden. Als er das Fundstück seiner Freundin Stella Swift, einer Paläoanthropologin mitbringt, ahnt er nicht, welch sensationelle Entdeckung sich dahinter verbirgt. Nicht nur, dass der Schädel ein bislang unentdecktes Bindeglied zwischen prähistorischem Affen und Frühmenschen darstellt, er ist auch wesentlich jünger als ursprünglich angenommen. Diese Tatsache und diverse anatomische Besonderheiten bringen die junge Forscherin auf den Gedanken, dass der Schädel einer prähistorischen Rasse angehört, die entgegen allen Annahmen nicht ausgestorben ist.
Die Gefahr einer kriegerischen Eskalation zwischen Indien und Pakistan bringt zeitgleich das Pentagon auf den Plan, die einen ihrer Agenten zu Beobachtungszwecken in die Region schicken. Der Agent schließt sich inkognito der von Swift und Furness organisierten Expedition an, mit der diese die Existenz des geheimnisvollen Schneewesens beweisen wollen.
Sehr bald mehren sich die Hinweise, dass ihre Theorie der Wahrheit entspricht und sich in den abgelegenen Bergketten des Himalaya ein Stamm riesiger, intelligenter Affenmenschen ein Refugium geschaffen hat. Ihre völlige Isolierung gerät nicht nur durch die Forschungsarbeiten der Expedition in Gefahr, sondern vor allem durch die Aktivitäten des Agenten, dessen Geheimauftrag das Leben der Spezies bedroht.
Kerr gelingt es, durch stimmungsvolle, ausführliche Beschreibungen die Großartigkeit und Faszination der nepalesischen Bergwelt aber auch ihre Risken und Gefahren einzufangen. Der Leser teilt die Begeisterung der Expedition bei der Suche nach dem Yeti. Das Buch lebt von der Spannung, ob an den Geschichten und Sagen etwas Wahres dran ist.
Konsequenterweise steht das Schneewesen daher auch im Mittelpunkt der Handlung. Bis auf Furness und Swift bleiben die Expeditionsteilnehmer und sonstigen Buchfiguren blass und konturenlos. Das Interesse des Lesers wird klar auf die Yetis gelenkt. Dabei sind sie keineswegs die vermenschlichten Helden mit einem kindlichen Gemüt. Das Tierische bleibt tierisch, und damit bleibt auch das fantastische Element der Geschichte im Bereich des Möglichen.
Der Autor legt viel Wert auf Authenzität. Er versorgt uns nicht nur mit wissenschaftlichen Ausführungen sondern auch mit Informationen über die nepalesische Bergwelt. Aber auch die Entdeckung des Schneemenschen, wenn auch noch eine Utopie, dürfte wissenschaftlichen Überprüfungen standhalten.
Viele Forscher sind tatsächlich der Meinung, dass dass immer wieder beobachtete Schneewesen von dem Riesenaffen "Gigantopithecus" abstammt, von dem bislang erst wenige fossile Überreste in Indien und China gefunden wurde. Diese deuten jedoch darauf hin, dass dieses Wesen bis 5000.000 Jahre v.Chr. gelebt hat. Während der angenommenen Existenz von 12 Millionen Jahren ist der Mount Everest beispielsweise um 500 Meter angewachsen. Es kann daher auch aus wissenschaftliche Sicht nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass hierdurch einige Stämme isoliert wurden und eine eigenständige Weiterentwicklung durchmachten. Das dies bis in die Gegenwart gelang, ist sicherlich zweifelhaft. Aber Kerr greift diese Theorie als Basis für seine Geschichte vom Yeti auf .
Während dem Yeti die Anpassung an die unwirtlichen Lebensumstände im Himalaya über die Jahrmillionen gelungen ist, stellt Kerr dieser Leistung das Unvermögen des homo sapiens entgegen, eine selbst verschuldete atomare Katastrophe zu überleben, die angesichts des sich in dem Buch geschilderten zuspitzenden Konflikts der Atommächte Indien und Pakistan in greifbare Nähe rückt. Hier hebt Kerr nun doch den Zeigefinger, indem er uns sagt, dass von uns als der sogenannten Krone der Schöpfung nicht alleine das Überleben der Spezies Mensch abhängt. Als evolutionäre Alternative bietet Kerr den "Schneemenschen" des Himalaya an.
Der eindeutige Schwachpunkt der Geschichte liegt auf dem Schluss. Kerr hält die liebevolle und sorgfältige Zeichnung der Atmosphäre und Stimmung leider nicht durch. Die Schlussphase zeichnet sich vielmehr durch eine gewisse Oberflächlichkeit im Sinne eines banalen Thrillers aus. Auch wenn ich das Ende der Geschichte in Anbetracht der fantastischen Handlung inhaltlich für gelungen halte, bleibt die Schilderung weit hinter dem Niveau der sonstigen Kapitel zurück. Schade.
Auf der Rückseites meines Buchexemplars befinden sich Formulierungen wie "Horrotrip" und "Spur des Todes". Wer sich hiervon angezogen fühlt, der sei vor dem Kauf des Buchs gewarnt. Mit bluttriefendem Horror hat dieser Roman trotz vereinzelter brutaler Szenen nichts zu tun. "Esau" ist vielmehr ein bildgewaltiger, stimmungsvoller Wissenschaftsthriller mit fantastischen und unaufdringlich moralisierenden Elementen.
"Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheuerer, als der Mensch (Sophokles)" (Kapitel Siebzehn)
Philip Kerr, Wunderlich
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