Die Insel der flüsternden Stimmen

  • Wunderlich
  • Erschienen: Januar 2002
  • 11
  • New York: Bantam Books, 2001, Titel: 'Folly', Seiten: 400, Originalsprache
  • Reinbek bei Hamburg: Wunderlich, 2002, Seiten: 591, Übersetzt: Sabine Schulte
  • Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2003, Seiten: 591
Die Insel der flüsternden Stimmen
Die Insel der flüsternden Stimmen
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2003

Das meint Krimi-Couch.de: Inselspuk, Hirnsausen oder Schurkenstreiche?

Zweifellos sind sie eine seltsame Familie, die Newborns aus Boston im US-Staat Massachusetts. Großvater William, der übermächtige Patriarch, hat seine Sippe fast ein volles Jahrhundert in Angst und Schrecken versetzen können. Sein Bruder Desmond fand es ehrenvoll, freiwillig in den I. Weltkrieg zu ziehen. In den Schützengräben hat er seine Gesundheit und seinen Verstand eingebüßt. Aus Europa kehrte ein verstörtes Wrack heim, das den Newborns Schande brachte, wie der unduldsame William befand. Desmond entzog sich dem Tyrannen und zog unstet durch sein Heimatland. Schließlich ließ er sich in den 20er Jahren auf einer der vielen San-Juan-Inseln vor der Küste des Staates Washington nieder. Ganz allein baute er dort "Folly", ein Haus, das er vom Keller bis zur Schornsteinspitze selbst entworfen hatte - ein seltsames Gebäude, wie der Name schon sagt, der für ein schnurriges, eigentlich sinnloses Unterfangen steht, wie es ein Prachthaus auf einem unwirtlichen Eiland (das bald ebenfalls Folly genannt wurde) zweifellos darstellt. Aber Folly ist schon längst nicht mehr; 1927 brannte es nieder, und Desmond verschwand spurlos. Seither wurde er totgeschwiegen in der Familie Newborn, und so lange William lebte, achtete er auffällig streng auf die Einhaltung dieser Regel.

Brach man sie, durfte man seines beträchtlichen Zornes gewiss sein, wie noch Rae Newborn, seine Enkelin, erleben musste. Rae war und ist ohnehin das Sorgenkind der Familie, eine Frau, die unter schweren Depressionen leidet. Seit dreißig Jahren zermürbt diese Krankheit die jetzt 52-Jährige. Melancholische Phasen, scheinbare Normalität, monatelange Aufenthalte in geschlossenen Anstalten, Selbstmordversuche - Rae hat das alles schon mehrfach durchleiden müssen und mit ihr die eigene Familie. Die ältere Tochter Tamara ist der unberechenbaren Mutter entfremdet. Auch die über alles geliebte Enkelin Petra liebt und fürchtet ihre kranke Großmutter, deren letzten völligen Zusammenbruch sie vor einem Jahr miterleben musste: Ein betrunkener Autofahrer hatte Raes zweiten Gatten und ihre jüngste Tochter umgebracht und sie schwer verletzt. Kaum vier Monate später war sie von zwei Strolchen überfallen und beinahe vergewaltigt worden. Diese beiden Tragödien trieben Rae in den völligen Kollaps. Nach Monaten im Irrenhaus hat sie sich halbwegs wieder erholt und verordnet sich nun selbst eine Rosskur: Sie will Großonkel Desmonds Haus wieder aufbauen - ganz allein! Rein technisch kann sie es: Rae Newborn ist gelernte Zimmerfrau und sogar als Künstlerin in Holz reich und berühmt geworden.

Gesagt, getan; den mahnenden Stimmen der Psychiater, der Familie und bald auch der guten Leute von Friday Harbor zum Trotz beginnt Rae ihr Projekt. Aber sie muss schon bald wieder mit ihrer Krankheit kämpfen, hört Geräusche und Stimmen. Als sie eines Tages den Abdruck eines fremden Stiefels findet, informiert sie Sheriff Jerry Carmichael. Die ganze Gemeinde am sicheren Küstenufer kennt längst Raes Geschichte, aber Carmichael gibt sich hilfsbereit. Das ist hilfreich, denn als die wackere Zimmerfrau das Fundament von Folly freilegt, entdeckt sie ﷓ Desmonds von Kugeln durchsiebtes Skelett! Der verwirrte Kriegsheld hat sehr offensichtlich seine geliebte Insel nie verlassen, und seinem bei der Leiche geborgenen Tagebuch muss Rae entnehmen, dass Großvater William sein letzter Besucher dort war ...

Krimi + Mystery = Bestseller des 21. Jahrhunderts?

Wer nun meint, damit sei die Katze aus dem Sack gelassen, sei beruhigt: Dies ist nur einer von vielen Erzählsträngen, die Laurie R. King hier kunstvoll spinnt. "Die Insel der flüsternden Stimmen" ist ein überwiegend wunderbarer, weil klug erdachter und ungemein sorgfältig in Szene gesetzter Thriller - trotz des wie so oft absolut dämlichen deutschen Titels. Sicherlich gibt es keine absolut treffsichere Übersetzung von "Folly" (vielleicht "Die Narreninsel"?), aber trotzdem wurde hier nicht die beste Alternative gesucht, sondern plump das Netz über die hiesigen Mystery﷓Fans ausgeworfen. Definitiv flüstern höchst selten Stimmen auf Folly. Statt dessen stehen das gleichnamige Haus und seine Bewohner im Mittelpunkt. Gleich zwei Mal in einem Jahrhundert zeigt sich, dass es seinen Namen zu Recht trägt. Zwei bis ins Mark verstörte Menschen errichten ein Narrenhaus auf einer einsamen Insel. So sieht es die "normale" Welt, die strikt negiert, dass sich diese beiden recht wohl bei ihrer Arbeit fühlen. Die Situation eskaliert erst, als sich die Außenwelt wieder in den Vordergrund drängt.

Großvater William Newborn, den wir nur in Schilderungen und alten Tagebuchaufzeichnungen kennen und trotzdem fürchten lernen, hat sich des peinlichen Bruders kurzerhand entledigt. Dasselbe Schicksal scheint ein Dreivierteljahrhundert später seiner Großnichte zu blühen. Das deuten jedenfalls die vielen seltsamen Ereignisse an, die Rae Newborn den Aufenthalt auf Folly erst unbehaglich und schließlich lebensgefährlich machen. Doch wieder macht es Autorin King (Nomen est Omen?) sich und ihrem faszinierten Publikum nicht so einfach. Finstere Gestalten durchstreifen die idyllische Inselwelt, junge Frauen verschwinden spurlos, und irgendwo im Hintergrund munkelt der böse Schwiegersohn.

Erst im Finale wird's recht konventionell; die graue Eminenz im Hintergrund betritt die Szene, und es gibt sogar ein Feuergefecht in dunkler Nacht. Das ist schade, es schadet der Geschichte. Immerhin entwertet es sie nicht. Um die Breitenwirkung des Romans nicht zu beinträchtigen, muss das Rätsel von Folly für die etwas schlichter gestrickte Leserschaft halt eine Auflösung finden, die keine Fragen offen lässt - es bestünde sonst die Gefahr, dass das nächste King-Buch weniger Leser/innen findet.

Das wahre Leben als Vorbild

Doch über weite Strecken ist "Die Insel der flüsternden Stimmen" die für sich spannende Geschichte einer versuchten Selbsttherapie. Natürlich fürchtet Rae Newborn, dass besagte "Stimmen" wie schon mehrfach geschehen ihren Ursprung im eigenen Kopf haben, also einen Rückfall in die Krankheit markieren. Diese Ambivalenz wird logisch dargestellt sowie in die Story integriert und nicht nur aufgesetzt, um die Figur "interessanter" zu gestalten.

Laurie R. King wurde im Großraum San Francisco geboren. Sie studierte Theologie und zog sie sich anschließend zunächst ins Familienleben und aufs Land zurück, wo sie die nächsten Jahren damit verbrachte, zwei Kinder großzuziehen und ein heillos verfallenes Farmhaus zu renovieren; das dabei erworbene handwerkliche Fachwissen floss in die Figur der Rae Newborn ein und trägt zur Authentizität von "Folly" entscheidend bei.

"Folly" erhielt inzwischen (natürlich) eine Art Fortsetzung: Im März 2003 erscheint in den USA "Keeping Watch", Kings neuestes Werk, das Sheriff Carmichaels Bruder Allen in den Mittelpunkt stellt, der es mit einem Fall von Kindesmissbrauch zu tun bekommt - auch dies ein Thema, zu dem King immer wieder zurückkehrt.

Die Insel der flüsternden Stimmen

Laurie R. King, Wunderlich

Die Insel der flüsternden Stimmen

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