Spuren am Klippenrand
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- Erschienen: Januar 1946
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Zweimal zwei unmögliche Tode.
Lyncombe ist ein Dorf, das im Südwesten Englands und dort im nördlichen Devon an der Atlantikküste liegt. Man achtet hier sehr interessiert darauf, was die Nachbarn treiben, weshalb der aktuelle Skandal die Gemüter stärker erregt als die Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg begonnen hat und in diesem Jahr 1940 die nazideutschen Truppen das britische Heer durch Frankreich und Belgien bis zum Ärmelkanal treiben.
In „Mon Repos“, ihrem Anwesen unweit der schroffen, von Klippen gesäumten Küste, sind Rita Wainright und Alec, ihr deutlich älterer Mann, unglücklich miteinander. Sie langweilt sich und verfällt deshalb umgehend dem ‚Schauspieler‘ Barry Sullivan, der in den USA geboren ist und sein Glück im englischen Theater sucht. 25 Jahre ist er ‚alt‘ und deutlich jünger als Rita, was die guten Leute von Lyncombe erst recht erregt.
Rita und Barry wollen in die USA durchbrennen und untertauchen. Bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen können, liegen sie tot unterhalb der Klippen. Allerdings hat nicht ein (selbstmordbedingter) Doppelschritt ins Leere sie umgebracht, sondern Schüsse aus einer später weit entfernt gefundenen Pistole. Die Polizei geht hartnäckig von einem gemeinsamen Selbstmord aus und verdächtigt den Ortsarzt Dr. Luke Croxley, die Waffe entsorgt zu haben, um Ritas Ruf zu schützen.
Croxley weist dies empört zurück und weist stattdessen auf die Spuren der Toten hin, die bis an den Klippenrand führen. Außer ihnen ist dort also niemand gewesen. Dieses Rätsel vermag auch Sir Stanley Merrivale zunächst nicht zu lösen. Der hochrangige Mitarbeiter des Kriegsministeriums und passionierte Privatermittler macht gerade Urlaub in der Nähe. Selbstverständlich kann er der Herausforderung nicht widerstehen und beginnt mit Ermittlungen, die das ohnehin wirre Bild vom Tathergang noch stärker verzerren ...
Wie konnte das geschehen?
Keiner will’s und keiner kann’s gewesen sein: Willkommen in der Welt des „Whodunit“-Krimis, in der zwar gemordet wird, doch dies so elegant und verwirrend geschieht, dass aus einem Verbrechen ein unterhaltsames Rätselspiel wird, dem man sich gern und ohne schlechtes Gewissen hingibt. Dabei nehmen die Leser in Kauf, dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht herausfinden werden, wie besagtes Mordmysterium zu lüften ist, obwohl ihnen die relevanten Hinweise vom Verfasser zugesteckt werden. Natürlich geschieht dies nebenbei und zwischen den Zeilen, denn der Wettlauf zur finalen Auflösung soll einigermaßen ausgeglichen sein.
Trotzdem gewinnt in der Regel der Autor; erst recht, wenn dieser John Dickson Carr (1906-1977) - hier unter seinem ‚Pseudonym‘ „Carter Dickson“ - heißt und auf dem Gipfel seiner Fähigkeiten steht, weshalb wir uns über ein besonders klassisches Szenario freuen dürfen: Rita Wainright und Barry Sullivan standen nachweislich allein am Rand der hohen Klippe; nur ihre Fußspuren führen dorthin, es existiert kein anderer Zugang zum Schauplatz des Verbrechens, denn das Paar wurde zu allem Überfluss erschossen und die Waffe weit fortgetragen. Wie konnte dies geschehen? Alle Theorien werden von den Tatsachen und den Naturgesetzen widerlegt.
Wie es trotzdem möglich war, wird erst im Finale erläutert. Diese Rolle übernimmt zum 14. Mal Sir Stanley Merrivale, der den Job nur scheinbar unwillig antritt. Merrivale ist ein Ermittler, der anders als Sherlock Holmes oder Hercule Poirot Gefühle nicht ausklammert, sondern sie empfindet, aber auch provoziert, weil Aufregung die Zunge löst. Seinen zwar sprunghaften, aber glasklaren Intellekt verbirgt Merrivale geschickt hinter der Maske des lauten Grobians, der - er spricht es in diesem Roman selbst an - auf gesellschaftliche Regeln pfeift, weil er sie als Mauer begreift, hinter denen sich Täter wie Zeugen verstecken können. Merrivale reißt diese Schutzwand ein und attackiert diejenigen, die sich sicher fühlten.
Ermitteln à la Merrivale
Dies ist einerseits Maske und andererseits Ausdruck eines ungestümen Geistes, der sich keine Fesseln anlegen lässt. Carr scheut nicht vor Slapstick zurück, um dies zu verdeutlichen. So lässt sich Merrivale in seinem Urlaub malen; nicht als zurückhaltender Gentleman natürlich, sondern als antikrömischer Senator in Toga und mit Lorbeerkranz auf dem Glatzkopf! Als ihn ein Geistesblitz trifft, rennt er aus dem Atelier, ohne sich umzuziehen, und zeigt sich ohne Scheu in seinem Kostüm - 1940 im ländlichen Raum eine echte Sensation!
Zudem hat sich Merrivale einen Zeh gebrochen und deshalb einen (offensichtlich übermotorisierten) Krankenfahrstuhl liefern lassen, mit dem er durch Lyncombe und Umgebung prescht, Mitmenschen und Tiere in Gefahr bringt und allerhand Flurschaden anrichtet: Merrivale gebärdet sich wie ein ungehorsames Kind und genießt die Tatsache, dass man ihn aufgrund seines Rufes und seiner hohen Stellung als Regierungsbeamter nicht ‚bestrafen‘ kann.
Carr liebte diese überlebensgroßen Ermittler. Stanley Merrivale - der eigentlich Henry Merrivale heißt* - könnte problemlos ein Bruder von Dr. Gideon Fell sein, den Carr noch öfter als Detektiv einsetzte. Bärbeißigkeit und die Ignoranz von Grenzen (sowie der heute problematische Hang, jungen, hübschen „Mädchen“ grenzwertige Komplimente zu machen) zeichnen auch Fell aus, der sich wie Merrivale nur gebrechlich gibt, aber seinen Stock eher als Requisite einsetzt. Das Ermittler-Trio wird durch den körperlich ebenfalls mächtigen, aber weniger jovialen Franzosen Henri Bencolin vervollständigt, den Carr in den 1930er Jahren mehrfach Verbrechen aufklären ließ.
(* Diese Namensänderung erfolgte, um ein ansonsten unübersetzbares Wortspiel zu retten: In England nennt man Henry Merrivale ob seiner pompösen Art auch „H. M.“ = „His Majesty“. Als „Stanley Merrivale“ funktioniert dies auch in deutscher Sprache: Aus „H. M.“ wird „S. M.“ = „Seine Majestät“.)
Kleine Welt mit vielen Augen
Im Gegensatz zu vielen anderen Krimiautoren klammert Carr den Zweiten Weltkrieg nicht aus. Er spielt für die Handlung nur eine Nebenrolle, weil er Rita und Barry eine Möglichkeit eröffnet, sich unbemerkt aus England abzusetzen, aber da wir das Jahr 1940 schreiben, lässt Carr die Zeitgeschichte ein, ohne darüber einem falschen, patriotischen Pathos zu verfallen. („Spuren am Klippenrand“ erschien 1943, als das Kriegsglück sich langsam gegen die Nazis zu wenden begann.) Stattdessen erinnern sich die Älteren an den „Großen Krieg“ von 1914/18 und die schrecklichen Opfer, die er gefordert hat, und fürchten den neuen Krieg.
Lyncombe wird von den üblichen ‚Typen‘ bevölkert, die zumindest geistig zwischen Landwirtschaft und Dorfleben irgendwo im 19. Jahrhundert steckengeblieben sind. Es gibt feste Hierarchien, aber auch an der Spitze muss man sich an Regeln halten. Rita und Alex mögen unglücklich miteinander sein, doch das gestattet keinen Aus- bzw. Ehebruch! Man muss sich in sein Schicksal fügen und Harmonie zumindest vorgeben. Erwartungsgemäß trifft bei Verstößen der Bann vor allem die Frau, die zu tun hat, was der Gatte vorgibt; auch erwachsene Töchter kuschen, wenn der Vater spricht.
Ansonsten ist der englische Landmann langsam im Denken und Handeln, was die lokale Polizei einschließt. Der für die Ermittlung zuständige Beamte heißt „Craft“, und in der Tat begreift er seine Arbeit als Handwerk: Wenn die Einzelteile vor ihm liegen, setzt er sie so zusammen, wie sie passen. Dass diese Elemente auch anders montiert werden können, übersteigt seinen Horizont. Hier muss dann jemand wie Merrivale eingreifen, um der Gerechtigkeit aus einer Sackgasse zu helfen.
Carrs Klasse beweist sich zu guter Letzt daran, dass er uns nicht nur eine, sondern zwei Auflösungen vorlegt. Beide klingen absolut plausibel, aber nur eine trifft zu: Quasi voller Übermut spielt Carr mit dem Genre und sorgt über die Lüftung des Rätsels hinaus für eine unerwartete, aber keineswegs unwillkommene Überraschung.
Fazit
Sein 14. Fall konfrontiert den genial-exzentrischen Ermittler Merrivale mit dem klassischen „unmöglichen“ Mord und einer Schar mehr oder weniger Verdächtiger. Die Handlung ist temporeich und manchmal turbulent, die Auflösung erstaunt, wie es sich für einen Rätselkrimi gehört, durch zuvor unvorstellbare Logik: ein gelungenes Genre-Stück.

John Dickson Carr, Signum
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