Die dritte Kugel
- Festa
- Erschienen: Oktober 2024
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Fangschuss für den König auf Camelot.
In der US-Großstadt Baltimore trinkt Erfolgsautor James Aptapton wie so oft einen über den Durst. Auf dem Heimweg läuft er vor ein Auto, das ihn überrollt und tötet; der Fahrer ergreift die Flucht: ein tragisches, aber banales Ereignis, wie es aussieht - oder aussehen soll? Jean Marquez, zur Witwe gewordene Gattin, erinnert sich an vage Andeutungen des Gatten, er sei einem der größten Geheimnisse der jüngeren Vergangenheit auf die Spur gekommen: Am 22. November 1963 starb im texanischen Dallas US-Präsident John F. Kennedy. Er wurde vom Attentäter Lee Harvey Oswald erschossen. Die Tat warf und wirft Rätsel auf, weil es schwerfällt zu glauben, ein einzelner Mann habe den von Sicherheitskräften umringten Anführer des mächtigsten Staates dieser Erde mit einem alten Gewehr umbringen können.
Gab es einen weiteren Schützen, diente Oswald als Sündenbock? Aptapton glaubte auf Indizien gestoßen zu sein, die dies bestätigen bzw. ihn zu den eigentlichen Auftraggebern des Attentats führen könnten. Wurde er aus dem Weg geräumt, weil er einer sorgfältig vertuschten Wahrheit auf die Spur gekommen war? Diese Frage treibt Jean Marquez um. Allerdings kann und will sie weder den Geheimdienst noch die Polizei um Hilfe bitten, sondern wendet sich an einen Spezialisten der besonderen Art.
Bob Lee Swaggard ist eine Legende als ehemaliger Scharfschütze, der unzählige Feinde und/oder Strolche ausgeschaltet hat. Er gilt als unfehlbarer Schütze, hat sich jedoch im fortgeschrittenen Alter als Pferdezüchter zur Ruhe gesetzt. Swaggard hasst Aufmerksamkeit, hat aber seinen eigenwilligen Sinn für Gerechtigkeit nicht verloren. Also lässt er sich von Marquez überreden, die ihr vorliegenden Indizien zu überprüfen. Damit sticht Swaggard wieder einmal in ein Wespennest, indem er Personen in hohen Positionen und aus einflussreichen Familien aufstört, die es gar nicht schätzen, dass jemand aufrührt, was sie einst mörderisch zu ihren Gunsten begraben haben ...
Das US-amerikanische Lieblings-Trauma
Der gewaltsame Tod eines US-amerikanischen Präsidenten ist ein Ereignis, das in seiner Wucht und seinen Folgen mit dem Ende eines mittelalterlichen Königs mithalten kann. Ausgerechnet in einem Land, über dem niemals ein Monarch stand, wird der Inhaber des genannten Amtes auf oft bizarre Weise überhöht. Dies gilt erst recht, ist der Präsident hässlich wie ein Hollywood-Bösewicht (Richard Nixon) oder eben jugendlich-attraktiv wie John F. Kennedy. Dass der ein sowohl schwerkranker als auch hemmungslos promiskuitiver Mann war, spielt keine Rolle: Der Schein steht über dem Sein, weshalb man vom Weißen Haus unter Kennedy gern als „Camelot“, dem Sitz König Arthurs und seiner Tafelrunde, spricht.
Kennedys absurder Tod durch die Schüsse eines wirrköpfigen Versagers ist der Stoff für Verschwörungsapostel. Echte und eingebildete Lücken des umfangreichen Warren-Reports, in dem die Tragödie aufgearbeitet wurde, bieten unzählige Möglichkeiten, sich mit eigenen Theorien (und Spinnereien) einzuklinken. Stephen Hunter erwähnt die vielen tausend Bücher, die das Attentat beleuchten und ‚erklären‘ wollen. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich Wahrheit, Wahn und Wunschvorstellung untrennbar miteinander verknäult.
Nun wirft also Hunter einen Blick hinter die Kulissen. Als Journalist und Schriftsteller ist er dazu prädestiniert, weil ein Profi in der Recherche, deren Ergebnisanalyse er anschließend einem möglichst breiten Publikum mitteilen kann. Hunter wählt als Form nicht das Sachbuch. Stattdessen ist „Die dritte Kugel“ Band 8 seiner Serie um den Patrioten und Scharfschützen Bob Lee Swaggard, der seinen einst mit der Waffe im Anschlag geführten Kampf um wahre Gerechtigkeit auch alt und gesundheitlich angeschlagen dort fortsetzt, wo unfähige, gleichgültige oder korrupte Regierungsstellen und Ordnungshüter dies verweigern oder gar bekämpfen.
Der alte Mann und das Meer (der Lügen)
Die Kombination wirkt verführerisch: Bob Lee Swaggard, von Verfasser als lebender Mythos im (redlichen) Umgang mit der Waffe gezeichnet, ermittelt im Kennedy-Mord, den ein Scharfschütze begangen hat. Hunter betont eine latent übernatürliche Verbindung, die echte „Sniper“ als Brüder im Geiste kennzeichnet. Es sind Männer, die ihrem Land mit der Waffe dienen. Einst hat auch Swaggard getötet, weil man es ihm befahl. Nun ist er klüger geworden und hat die Phrasen aus Politik und Militär durchschaut. Nichtsdestotrotz ist er seinem Arbeitsinstrument treu geblieben: Zwar stellt Swaggard dieses Mal vor allem Fragen, aber zwischendurch und natürlich im Finale ‚muss‘ er wieder zur Waffe greifen und demonstrieren, was er kann.
Dennoch könnte „Die dritte Kugel“ die Anhänger eines von Waffengewalt getragenen Thrillers auf die Probe stellen; dies nicht nur, weil sich das Geschehen über beinahe 700 Seiten hinzieht, sondern auch, weil sehr viele Buchseiten der Rekonstruktion einer Tat gewidmet werden, die so geschehen sein könnte. Bis Hunter die Katze aus dem Sack lässt, geht er ausführlich auf einschlägige Fakten und Theorien (sowie Hirngespinste) um das Attentat ein. Hinzu kommen Einschübe in Gestalt eines ‚Geständnisses‘, in dem der wahre Hintermann des Präsidentenmordes seine Motive offenlegt. Wenn er erzählt, ist die eigentliche Handlung ausgesetzt, bevor im letzten Drittel Swaggard wieder das Heft an sich reißt.
Die Rekonstruktion des Mordgespinstes erfordert Ermittlungen auch außerhalb der USA. Hunter lässt Swaggard nach Russland reisen, das in der Gegenwart dieser Ereignisse - wir schreiben das Jahr 2013 - noch nicht die abgeschottete bzw. isolierte Putin-Diktatur ist, sondern ein Land im kapitalistisch geprägten Umbruch. Oligarchen und das organisierte Verbrechen mischen kräftig mit. Für die besondere Würze sorgt die nahtlose Zusammenarbeit dieser neuen Herren mit den gut vernetzten Vertretern der Sowjet-Vergangenheit. Geheimdienst, Militär, Politiker: Alle wollen ihr Stück vom Kuchen, und sie holen es sich notfalls mit Gewalt.
Die Spur führt ins Leere
Da dies kein Science-Fiction-Roman ist, muss Hunter notgedrungen dafür sorgen, dass die Rätsel um den Kennedy-Mord nicht ‚offiziell‘ gelöst werden. Intern folgt Swaggard den vom Verfasser gelegten Spuren. Sie ergeben ein für den Durchschnittsleser schlüssiges Bild, das die Realität dennoch nicht widerspiegeln muss. Im Rahmen dieser Geschichte erfüllt Hunters Version - über die er in einem Nachwort ausführlich informiert - ihren Zweck als Treibriemen eines letztlich doch fiktiven Thrillers.
Das ist manchmal harte Kost, wenn Hunter gar zu detailfroh in der realen Vergangenheit schwelgt und in der Zwischenwelt der Verschwörungstheoretiker aufgeht. Müssen wir, wollen wir das alles so genau wissen? Der Autor hat intensiv nachgeforscht und fühlt sich in der Pflicht, uns mit seinen Erkenntnissen zu konfrontieren. Dass darunter die Rahmenhandlung um Bob Lee Swaggard leidet, nimmt er in Kauf.
Ungeachtet dessen bereitet die Lektüre dieses umfangreichen Buches Freude. Hunter kann erzählen; in seinem simpel wirkenden, aber Information und Stimmung tragenden Sprachduktus, der den Journalisten verrät, hält er uns nicht nur bei der Stange, sondern führt uns auch durch allzu intensive Rekonstruktionsmodelle. Zudem glänzt Hunter, wenn er die Welt der frühen 1960er Jahre und hier den Mikrokosmos einer US-Politik aufleben lässt, die ohne schlechtes Gewissen geheimdienstlich und militärisch sowie notfalls gewaltsam manipulierend die Geschicke ‚ihres‘ Landes lenkt. Damit steht „Die dritte Kugel“ weit über den in der „Action und Thriller“-Reihe des deutschen Verlags herausgegebenen, plump-patriotischen Allmachtsphantasien, in denen US-Helden trivialliterarisch die Felle vertierten Schurken aus dem Nahen Osten, Russland oder Mittel- und Südamerika gerben (was in der Realität noch jedes Mal schief gegangen ist).
Fazit
Im achten Band der Bob Lee Swaggard-Serie drängt die dramatisierte Real-Historie die Hauptfigur in den Hintergrund einer Rahmenhandlung, die sich manchmal mühsam behaupten muss; aufgrund des Einfallsreichtums eines Verfassers (und Übersetzers), der Wort und Stil beherrscht, dennoch eine interessante Lektüre.

Stephen Hunter, Festa
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