Das Geheimnis der Silvesternacht

  • Klett-Cotta
  • Erschienen: September 2024
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2024

Kein glückliches Neujahr für Agentenstrolche.

Wie üblich verbringt Professor Alfred Wragby, der berühmte theoretische Physiker, die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr mit seiner kleinen Familie - Gattin Elena und Tochter Lucy - in der südenglischen Grafschaft Dorset und dort in Downcombe bzw. in einem Herrenhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert, das nun als Hotel betuchte Gäste beherbergt.

Gerade ist Wragby eine Entdeckung geglückt, die Englands Raketenabwehr ein großes Stück voranbringen wird. Diese Tatsache ist den Sowjets hinter dem Eisernen Vorhang nicht entgangen. Im ausklingenden Jahr 1962 tobt der Kalte Krieg zwischen den Atommächten und ihren Verbündeten. Großbritannien mischt kräftig mit, weshalb Agenten sich auf den Weg nach Downcombe machen, um dem Professor seine Erfindung zu entreißen. Verantwortlich ist der brutale, aber tüchtige Petrow, der den perversen Universitätdozenten Paul Cunningham zur Mithilfe erpresst, während er auf die fanatische Genossin Annie Stott auch ohne Druck zählen kann.

Cunningham und Stott entführen die achtjährige Lucy Wragby, um den Vater auf diese Weise zum Verrat zu zwingen. Doch der englische Geheimdienst hält ein Auge auf seine militärisch wichtigen Wissenschaftler. Nigel Strangeways gehört im Dienst der Abteilung für Innere Sicherheit zu den Gästen des Hotels. Allerdings kann er nicht verhindern, dass Lucy gekidnappt wird: Im Hotel gibt es einen „Maulwurf“, der für die Sowjets arbeitet! Strangeways muss herausfinden, wer das doppelte Spiel treibt, um auf diese Weise eine Spur zu den Entführern und ihrem Auftraggeber zu finden. Die Zeit drängt, denn Petrow ist ungeduldig, und er hat keinerlei Skrupel, auf die Hilflosigkeit seines Opfers Lucy hinzuweisen ...

Die rote Pest im Land der Gerechten

Als Nigel Strangeways 1935 in „A Question of Proof“ (dt. „Was zu beweisen war“) ein erstes Mal als Ermittler auftrat, geschah dies im Rahmen eines für diese Ära typischen Rätselkrimis, der die verwickelte, aber unterhaltsame Suche nach einem Übeltäter thematisierte. Autor Cecil Day-Lewis (1904-1972) versuchte sein karges Gehalt als Schulleiter aufzustocken und schrieb - vorsichtshalber unter dem Pseudonym „Nicholas Blake“ - Kriminalromane, die ihm aufgrund ihres Erfolgs den erhofften Gewinn sowie die Anerkennung der Literaturkritik einbrachten.

Der Zweite Weltkrieg sorgte dafür, dass Blake die reale Gegenwart in seine Krimis einfließen ließ. Strangeways, einst ein junger, recht naiver Mann, wurde ‚erwachsen‘ und nicht nur Polizist, sondern auch für den Geheimdienst tätig. Der Kalte Krieg, der nach 1945 den Weltfrieden bedrohte, beschäftigte viele Autoren. Day-Lewis hatte einst mit dem Sozialismus sowjetischer Prägung geliebäugelt, war aber vom Stalin-Terror ernüchtert von seinen Überzeugungen abgerückt. Durch den Weltkrieg zusätzlich erschüttert, sah er eine Gefahr im sozialistischen Totalismus, worauf er auch in seinem Krimi hinweisen wollte.

Das Thema lag wie gesagt in der Luft. Ost und West belauerten einander und schickten Agenten aus, um den Gegner zu bespitzeln. Die Angst vor einer „Fünften Kolonne“, die im Heimatland heimlich eine Invasion vorbereitete, ging nahtlos über in die Sorge, dass buchstäblich Jagd auf Politiker oder eben Wissenschaftler gemacht wurde, die das militärische Gleichgewicht aufgrund überlegener Waffen zerstören konnten. Gerade in England war man auf der Hut, nachdem gleich fünf hochrangige Mitglieder des Geheimdienstes MI 5 als Doppelagenten entlarvt wurden. Viele Jahre hatten sie sich hochgearbeitet und Spitzenpositionen inne, sodass sie brisante Geheimnisse kannten, die sie an die Sowjetunion weitergaben. Die „Cambridge Five“ konnten sich so lange halten, weil sie als ehemalige Studenten einer Eliteuniversität und aufgrund ihres sozialen Standes als „gentlemen“ und deshalb unverdächtig galten; Blake spricht den Skandal an einer Stelle explizit an.

Das Spiel ist aus

Wem konnte man noch trauen, wenn selbst die Stützen der Gesellschaft zu Verrätern wurden? Ohnehin waren die traditionellen Werte seit Kriegsende ins Wanken geraten;  das in Finanznöte geratene Ehepaar Admiral Ffrench-Sullivan und Muriel gehört zu den Verlierern, worüber vor allem sie sich bitter und ständig beklagt. Die Not ignoriert in dieser modernen, chaotischen Gegenwart den Status, und sie erregt Misstrauen: Hat sich das Duo angepasst und verkauft sich womöglich für Geld? (Der Admiral gibt zu, dass er damit liebäugelt, Gesellschaftsklatsch an die Presse durchzustechen.)

Das „Große Spiel“, an dem sich die europäischen Geheimdienste vor und nach 1900 beteiligten, hatte sich in bitteren, oft mörderischen Ernst verwandelt. Den edelmütigen, romantisch verkleideten Richard Hannay aus John Buchans Romanserie (1915-1936) ersetzte James Bond, der Agent mit der Lizenz zum Töten - und Nicholas Blake wollte mit der Zeit gehen.

Entstanden ist eine seltsame, nur bedingt harmonische Verbindung zwischen „Whodunit“ und Thriller. Der Einstieg ist roh und modern: Ein Kind wird entführt, und dass es unter Kidnapper geraten ist, die es nicht lebend freigeben werden, steht früh fest. Der moderne Agent geht über Leichen - dies erst recht, wenn er aus der Sowjetunion stammt. Agent Petrow ist ein (aus Film und Fernsehen dieser Ära) bekannter und ‚typischer‘ Vertreter seiner Zunft: oberflächlich freundlich und jovial, aber tatsächlich ein eiskalter Apparatschik, der durch Angst und Gewalt seine Ziele erreicht. Seine Spielgesellen symbolisieren Schwächen, die den Verräter kennzeichnen: Annie Stott ist eine vom Leben enttäuschte Frau, die sich in die Ost-Ideologie geflüchtet hat, Paul Cunningham ein Päderast, der durch seinen Trieb angreifbar wurde - Bruchstellen, die der Feind in Erfahrung brachte und nun ausnutzt.

Aus der Not eine Tugend machen

Immer wieder springt Blake zwischen Kidnapperversteck und Edelhotel hin und her. Er behält beide Handlungen im Auge und steigert die Spannung, indem er verdeutlicht, dass ein Vorsprung auf der einen die andere Seite in Zugzwang bringt. Strangeways und seine Gefährten müssen dabei mit einer auf den Rücken gebundenen Hand agieren und stets einkalkulieren, dass einer ihrer Schachzüge die entführte Lucy in Gefahr bringt. Das Risiko ist hoch, denn die Bande hat einen Maulwurf im Hotel. Der muss zunächst entlarvt und dann mit irreführenden Informationen gefüttert werden.

In diesem Handlungsstrang ist „Mord in der Silvesternacht“ noch (oder wieder) ein Rätselkrimi. Der Hippie Lance Atterson und seine (allzu) jugendliche Geliebte Cherry, Admiral Ffrench-Sullivan und Muriel, der undurchsichtige Justin Leake und sogar die aus dem inzwischen kommunistischen Ungarn geflohene Elena sind gleichermaßen verdächtig, während Professor Wragby womöglich heimlich das Haus verlassen wird, um mit den Entführern direkt zu verhandeln. Strangeways arbeitet sich durch den genretypischen Wust offensichtlicher Verdachtsmomente, die sich nach und nach plausibel erklären lassen und natürlich in einer Überraschung münden, als die Identität des Maulwurfs gelüftet wird.

Im letzten Drittel wird es turbulent und dramatisch, schließlich auch theatralisch: Letztlich kann (oder will) Blake nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Verständnis vom Funktionen des Geheimdienstes angelesen, oberflächlich und bruchstückhaft ist. Anders als beispielsweise John le Carré, der selbst als Agent tätig gewesen war, konstruiert Blake eine Räuberpistole, die eher an Alfred Hitchcock erinnert: Der Spannungseffekt steht im Vordergrund, die Logik hat sich dem zu beugen. Hinzu kommen Emotionen: Die von Sorge zerfressenen Eltern, das kleine, aber tapfere Mädchen, das ungeachtet seine Schwäche die Möglichkeit sieht und nutzt, um auf seine Lage hinzuweisen, die von eigenen Nöten und Begierden beherrschten Hausgäste ... Blake mag mit Routinen arbeiten, die an zeitgenössische Kino-Thriller erinnern. Auf diesem Niveau erfüllen sie aber ihren Zweck. „Das Geheimnis der Silvesternacht“, der 15. und zweitletzte Band der Nigel-Strangeways-Reihe - erstmals in deutscher Sprache erschienen -, ist kein Highlight der Serie, führt aber die Leser geschickt bis ins Finale.

Fazit

Qualitativ schwankende, weil nicht wirklich ausgegorene Mischung zwischen Krimi-Klassik und modernem Thriller, aber routiniert geplottet und geschrieben, dabei zumindest mit den Versatzstücken jenes gediegenen Krimi-Handwerks ausgestattet, die den Verfasser zu einem bekannten englischen Vertreter seiner Zunft machen.

Das Geheimnis der Silvesternacht

Nicholas Blake, Klett-Cotta

Das Geheimnis der Silvesternacht

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