Der gefrorene Fluss
- Adrian & Wimmelbuchverlag
- Erschienen: November 2024
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Erinnerungen sind trügerisch. Papier und Tinte aber sind die Hüter der Wahrheit.
Der Kennebec River friert ungewöhnlich früh zu. Die Männer versuchen, noch eine Ladung Holz auf den Weg zu bringen. Die Zeit drängt, denn das Eis bildet sich unglaublich schnell. Bei einem Zwischenfall fällt ein Mann ins Wasser. Dabei entdeckt er die Leiche eines im Eis eingeschlossenen Mannes. Nach der Bergung der Leiche wird die Hebamme und Heilerin Martha Ballard gerufen, um die Todesursache festzustellen. Nach einer gründlichen Untersuchung ist klar, dass der Tote gewaltsam ums Leben gekommen ist. Doch der junge Arzt Dr. Page stellt Marthas Untersuchungsergebnis in Frage, da ein wichtiges Indiz für ihre These fehlt.
Theorie und Praxis
Marthas Mann Ephraim hat ihr das Lesen und Schreiben beigebracht. Sie führt ein Tagebuch, in dem sie vor allem ihre Arbeit als Hebamme und Heilerin dokumentiert. Die Aufzeichnungen dienen ihr dazu, wesentliche Aspekte ihrer Heilbehandlungen festzuhalten. Erst vor wenigen Wochen wurde Martha zu einer jungen Frau gerufen, die schreckliche Verletzungen von einer Vergewaltigung aufwies. Und jetzt wurde einer der Täter tot aus dem Fluss geholt.
Der neue zuständige Arzt, Dr. Benjamin Page, stellt Marthas Arbeit als Hebamme und Sachverständige bei Todesfällen in Frage und untergräbt ihre Befunde. Schliesslich hat er Medizin studiert und ist fachlich kompetenter als Martha. Als Mann ist er in allen Dingen sowieso kompetenter. Nachdem er die Leiche aus dem Fluss untersucht hat, kommt er zum Schluss, dass es sich um einen Unfall handelt. Die gefundenen Indizien sind jedoch eindeutig und weisen auf einen Mord hin. Wenn nur das wichtigste Beweisstück nicht fehlen würde. Marthas Suche nach der Wahrheit hat grosse Auswirkungen auf ihr eigenes Leben und das ihrer Angehörigen und Freunden. Mit Ausdauer, Einfühlungsvermögen und Fachkenntnis verfolgt sie dennoch ihr Ziel.
Die Rechte der Frauen
Das Buch ermöglicht eine Reise in eine Welt, in der Frauen so viel weniger wert waren als Männer. Nur durch ihre Arbeit als Hebamme und Heilerin hatte Martha Ballard eine besondere Stellung in der Gesellschaft. Dass sie auch noch lesen und schreiben konnte, war für viele befremdlich. Gerade deshalb kommt ihrem Tagebuch eine besondere Bedeutung zu. Schwarz auf weiss hält sie die Ereignisse fest.
«Aber Papier und Tinte nehmen die Wahrheit auf und geben sie unparteilich wieder, ohne Emotionen. Das, glaube ich, ist der Grund, warum so wenige Frauen lesen und schreiben lernen dürfen. Gott allein weiss, was sie mit der Macht von Feder und Tinte in ihren Händen anstellen würden.»
Die Geschichte von Ariel Lawhon gibt einen faszinierenden Einblick in das Leben am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie wird aus Marthas Perspektive erzählt. Dies ermöglicht eine unmittelbare Nähe zur Person und zum Geschehen. Jedes Kapitel beginnt mit einem Shakespeare-Zitat und gibt Hinweise auf die kommenden Ereignisse. Die Suche nach den wahren Hintergründen des Mordes ist in einen vielschichtigen historischen Kontext eingebettet. Frauenrechte spielen dabei eine grosse Rolle. Ein Beispiel dafür ist die Anhörung Marthas vor Gericht, wo sie über die Ergebnisse der Untersuchung des Toten Auskunft gibt. Dass sie überhaupt unbeaufsichtigt aussagen darf, verdankt sie ihrem Beruf. Denn Frauen werden vor Gericht nur in Anwesenheit ihrer Ehemänner angehört. Ariel Lawhon hat in ihrem Roman noch weitere Begebenheiten verarbeitet, die die Stellung und den Wert der Frau anschaulich beschreiben.
«Die Bestrafung unverheirateter Mütter beruht auf einem grausamen System, das darauf abzielt, Frauen zu demütigen und sie somit von fleischlichen Aktivitäten abzuhalten. Dass Frauen jedoch nicht allein Kinder zeugen und es kein Gesetz gibt, das Männer für ihre Beteiligung bestraft, ist es auch die schlimmste Art von Heuchelei.»
Fiktives und Reales werden harmonisch miteinander verbunden. Das ist spannend und interessant, auch wenn dadurch einige Längen entstehen. Aber die ruhige und sachliche Erzählweise verleiht dem Ganzen eine besonders eindrückliche Atmosphäre. Mit Klugheit und Beharrlichkeit versucht Martha, die Fäden zu entwirren und der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Es ist ein Vergnügen, sie in diesen sechs Wintermonaten zu begleiten.
Fazit
Inspiriert vom Tagebuch der Martha Ballard, einer berühmten amerikanischen Hebamme des 18. Jahrhunderts, entstand dieser vielschichtige und faszinierende Roman. Auch wenn der Mordfall etwas in den Hintergrund rückt, besticht die Geschichte durch ihre Ruhe und Besonnenheit. Eine bezaubernde Reise in die Vergangenheit.
Ariel Lawhon, Adrian & Wimmelbuchverlag
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