Weihnachtskrimis

  • Anaconda
  • Erschienen: September 2024
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2024

Sechs Untaten zum Weihnachtsfest.
  • Robert Louis Stevenson: Markheim (Markheim; 1885): Tief ist Markheim gesunken. In dieser Weihnachtsnacht wird er sich des schlimmsten Verbrechens schuldig machen - und womöglich dem Teufel begegnen.
  • Catherine Louisa Pirkis: Der schwarze Koffer auf der Türschwelle (The Black Bag Left on a Door-Step; 1893): Dass die Hinterlassenschaft eines angeblichen Selbstmörders und ein dreister Diamantenraub zusammenhängen, fällt nur einer gewieften Privatermittlerin auf.
  • Arthur Conan Doyle: Die Geschichte des blauen Karfunkels (The Adventure of the Blue Carbuncle; 1892): Im Schlund einer schon gerupften Weihnachtsgans steckt ein kostbarer Edelstein. Sherlock Holmes löst nicht nur dieses Rätsel, sondern kann auch einem zu Unrecht Verdächtigen zur Freiheit verhelfen.
  • Gilbert Keith Chesterton: Die flüchtigen Sterne (The Flying Stars; 1911): Meisterdieb Flambeau nutzt eine turbulente Weihnachtsgesellschaft auf dem Land und raubt wertvolle Diamanten. Der ebenfalls anwesende Father Brown kommt ihm auf die Schliche und appelliert an sein Gewissen.
  • Edgar Wallace: Die Chopham-Affäre (The Chopham Affair; 1930): Der schmierige Erpresser findet nicht nur ein verdientes Ende; der Zufall sorgt auch dafür, dass ein zur Gewaltausbrüchen neigender Dieb dafür buchstäblich den Kopf hinhält.
  • Marjorie Bowen: Der chinesische Apfel (The Chinese Apple; 1948): Die Rückkehr ins verhasste Elternhaus weckt hässliche Erinnerungen, bis ein Mord in der Nachbarschaft für eine böse Überraschung und noch größeres Entsetzen sorgt.

Wenn sogar Verbrecher besinnlich werden

Weihnachten ist das Fest der Liebe - so wird es jedenfalls genannt, wobei die Hoffnung der Realität nur bedingt gewachsen ist: Wer kennt nicht den Stress, der sich zuverlässig einstellt, sobald man sich entspannen und miteinander vertragen muss. So werden die Folgen in den hier gesammelten sechs Erzählungen freilich nicht thematisiert. Doch es hat seine Gründe, dass man sich ausgerechnet zu Weihnachten spannende und gruselige Geschichten erzählt, wobei die Realität = die während der Feiertage durchlittenen, von Familienmitgliedern, Verwandten u. a. Hausgästen verursachten Qualen tunlichst ausgeklammert bleiben.

Diese speziellen Weihnachtsgeschichten dienen als emotionales Druckventil. In einer Vergangenheit ohne Fernseher, Internet u. a. Ablenkungen konnte und wollte man auf dieses Instrument nicht verzichten! Also kam man an den bedrohlich langen Abenden zusammen und spann Garne. Auf diese Weise verging die Zeit, und der reichlich genossene Alkohol verdunstete folgenlos, während erzählt und zugehört wurde. Wer seinem Hirn keine eigenen Storys entlocken konnte, griff auf die zahlreichen zeitgenössischen Zeitungschriften zurück, die ihre Leser vor und nach den Festtagen mit einschlägiger Erzählware eindeckten. Viele Autoren konnten kurz vor Jahresschluss auf die gesicherte Abnahme ihrer Werke (= eine Art Weihnachtsgeld) hoffen, denn der Markt war groß.

Die meisten dieser Erzählungen sind längst vergessen, was keineswegs immer vorteilhaft ist: Auch prominente und/oder begabte Schriftsteller/innen nahmen gern die Verdienstmöglichkeit wahr. Die Zeitung besitzt nur eine kurze Halbwertszeit; schon am nächsten Tag schiebt man sie dem Wellensittich in seinem Käfig unter oder wickelt Fisch darin ein. Glücklicherweise sind diese Zweitschriften und ihre Beilagen hier und da gesammelt oder gar gezielt archiviert worden. Es gibt Sucher, die nach literarischen Schätzen suchen und diese bergen, um sie einem modernen Publikum (wieder) zugänglich zu machen: Der Drang (oder Zwang?) zur Besinnlichkeit ist auch im 21. Jahrhundert vorhanden, Spannung und Grusel sind weiterhin beliebte Blitzableiter.

Kriminalität bei Kerzenlicht

Robert Louis Stevenson (1850-1894) sorgt viktorianisch und somit überreichlich für ein Drama, das in einer Weihnachtsbotschaft mündet bzw. ertrinkt; so urteilt jedenfalls die heutige Leserschaft, wenn in dieser durchaus spannenden und psychologisch intensiven Geschichte über einen Mord und dessen psychologischen Folgen plötzlich der Teufel (oder ein ‚verkleideter‘ Engel) auftritt, um den Täter zu versuchen. Von dessen Entscheidung hängt sein Seelenheil ab, und selbstverständlich siegt das Gewissen (bzw. der Geist der Weihnacht).

Catherine Louisa Pirkis (1839-1910) stellt uns - für ihre Zeit ungewöhnlich - eine Frau vor, die selbstbestimmt lebt und einem Job nachgeht, der eigentlich Männer vorbehalten ist. Sie arbeitet als private Ermittlerin und wird von der Autorin als ungemein findig geschildert, was sogar männlich anerkannt wird, während der gleichzeitig aktive Polizeibeamte aufgrund altmodischer Vorurteile im Dunkeln tappt. Der Fall ist reich an falschen und verwirrenden Spuren, die genretypisch im ausführlichen Finale für den fasziniert lauschenden Detektei-Chef = den Lesern aufgedröselt und in die faktische Reihenfolge gebracht werden.

Arthur Conan Doyle (1859-1930) präsentiert uns einen Sherlock Holmes in Weihnachtsstimmung, was bedeutet, dass er den verzwickten Fall zwar löst und den Schuldigen entlarvt, diesen jedoch nicht der Polizei ausliefert: Holmes setzt auf den ‚Lerneffekt‘ des ohnehin dilettantischen Diebes und erinnert sich daran, dass seitens der offiziellen Justiz Gerechtigkeit und Nachsicht kaum zu erwarten sind. Dies ehrt ihn, doch es widerspricht auch dem emotionsarmen Holmes-Bild, das uns Verfasser Doyle vermittelt hatte. Weihnachten macht’s möglich!

Eine Frage des Gewissens

Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) ist ein Phänomen: Sein Father Brown gehört zur Oberklasse der klassischen Ermittler, obwohl er (zumindest nach Ansicht dieses Rezensenten) in erster Linie durch die klischeehafte, aber gleichzeitig pointierte Darstellung diverser talentierter Schauspieler in Kino und Fernsehen an Profil gewinnen konnte. Chestertons Brown ist eine betont (und absichtlich) fade Person, die ihren kriminologischen Verstand durch die manische Vermittlung christlich-katholischer Wertvorstellungen erweitert bzw. verwässert: Die Entscheidung liegt beim Leser. Heutzutage wirken Browns Appelle an Täterherzen (oder -seelen) naiv oder sogar penetrant. Ungebrochen ist jedoch die Pracht von Chestertons funkelnder Prosa, die hier u. a. durch eine mustergültige winterlich-weihnachtliche Stimmung zum Tragen kommt.

Edgar Wallace (1875-1932) ist ein Zeitgenosse Chestertons und Doyles, gilt aber als Vertreter eines ‚härteren‘ Krimis, wie ihn in den USA Dashiell Hammett oder Raymond Chandler repräsentierten. Tatsächlich konnte Wallace überaus altmodisch und/oder sentimental sein. Dieses Mal passt dies erfreulicherweise zum Fall. Wie Arthur Conan Doyle nutzt der Verfasser die Gunst des Weihnachtsmanns unter Missachtung des Gesetzes aus, geht aber - schon sehr ‚modern‘ - mehr als einen Schritt weiter, indem er einen Vertreter genau dieses Gesetzes Gelegenheit und Wissen zur Vertuschung eines als ‚gerecht‘ inszenierten Mordes verschafft.

Marjorie Bowen (d. i. Gabrielle Margaret Vere Campbell, 1885-1952) gehört einer Schule von Krimi-Autoren an, denen die Psyche der Tatbeteiligten wichtiger als der akribische Ablauf dieser Tat und ihrer Aufklärung ist. Dies schließt hier den Mörder ein, wie uns Bowen in einer (aus heutiger Sicht nur mäßig gelungenen, da allzu ausschweifend als solche vorbereiteten) Final-Überraschung offenbart. Abermals (s. Pirkis) rettet das Geschick, mit der die Autorin glaubhaft weibliche Mordmotivation in Szene setzt, die Story vor der Vergessenheit.

Nicht ganz das Ziel erreicht

Sechs Erzählungen enthält der hier vorgestellte Band. Er sticht schon deshalb heraus, weil er - fest gebunden und schön gestaltet - für wirklich kleines Geld angeboten wird. Wer hier zugreift, kann nichts falsch machen, zumal die von diesem Rezensenten festgestellten Nachteile dem Gelegenheitsleser nicht auffallen dürften; sie sollen deshalb erwähnt, aber nicht überbewertet werden

Dass wir Erzählungen wie „Markheim“ oder „Der blaue Karfunkel“ finden, dürfte zumindest den passionierten Krimi-Leser seufzen lassen. Stevensons Weihnachtsgrusel und Doyles Weihnachtsmärchen mit Sherlock Holmes und Dr. Watson stellen keine Entdeckungen dar! Womöglich sind sie inzwischen copyrightfrei und deshalb kostengünstiges ‚Futter‘ für eine solche Sammlung.

Diese Füllsel lassen sich aufgrund des erwähnten Verkaufspreises verschmerzen. Es warten ja mindestens drei wenig bis überhaupt nicht bekannte, aber lesenswerte Storys auf nostalgisch gestimmte und in (punschverstärkter) Weihnachtsvorfreude schwelgende Leser!

Fazit

Aufgrund manchmal schon allzu oft herausgepickter Erzählungen an Lektürefreude einbüßender, aber insgesamt trefflich mit Blick auf das Weihnachtsfest zusammengestellter, schön gestalteter und kostengünstiger Sammelband.

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