Das Phantom

  • Kampa
  • Erschienen: Oktober 2024
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Michael Drewniok
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2024

Suche nach einer womöglich mörderischen Stecknadel.

An einem heißen Sommertag des Jahres 2002 wird die Polizei der Kleinstadt Eastlake, gelegen am Südufer des Erie-Sees im US-Staat Idaho, in eine abgelegene Wohnanlage gerufen. Dort hat der Verwalter den Dauermieter Joseph Chandler tot aufgefunden. Die Untersuchung des möglichen Tatorts ergibt einwandfrei, dass sich Chandler selbst durch einen Revolverschuss in den Kopf umgebracht hat. Er litt unter Krebs im fortgeschrittenen Stadium und hat seinem Leben offenbar deshalb ein Ende gemacht.

Was als Routinefall beginnt, nimmt eine unerwartete Wendung, als sich herausstellt, dass „Joseph Chandler“ bereits 1945 im Alter von acht Jahren verstorben ist. Der Selbstmörder hat seine Identität angenommen. Befragungen ergeben weiterhin, dass „Chandler“ extrem zurückgezogen lebte, keine Freunde und nur wenige Bekannte hatte. Auch sonst benahm er sich seltsam und hütete Geheimnisse, die er unbedingt gewahrt wissen wollte.

Was war der Grund? Die Polizei vermutet einen kriminellen Hintergrund. Um dies zu klären, muss zunächst der wahre „Joseph Chandler“ ermittelt werden. Dies wird zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen, denn der Verstorbene hat außerordentlich geschickt sämtliche Spuren verwischt, die in seine Vergangenheit führen. Es dauert Jahre, bis zumindest sein echter Name und seine Geschichte festgestellt werden können. Es bleiben jedoch große Lücken und viele Fragen. Wer war Robert Nichols? Womöglich ein flüchtiger, nie aufgespürter Verbrecher, ein Serienkiller? Viele Menschen werden in ein Mysterium verwickelt, das sie über Jahrzehnte nicht mehr loslässt ...

Der perfekte Mörder?

So mancher Mitmensch verbeißt sich in ein Rätsel, das ihm (oder ihr) größer und faszinierender vorkommt, je länger man sich damit beschäftigt. Ein möglicher Kriminalfall, in dem ein Täter stets unterhalb des Polizeiradars blieb, obwohl er Schauerliches in Serie beging, sorgt für einen Magnetismus, der nicht ohne Risiko ist. Viele sind berufen, wenige jedoch auserwählt, was hier heißt, dass Eifer und die Bereitschaft, jeden Stein umzudrehen, eine fehlende Ausbildung als Fahnder und lückenhafte Indizien nicht ersetzen. Stattdessen machen sich solche ‚Ermittlungen‘ selbstständig. Sie führen zu keinem Ergebnis, sondern immer wieder auf Irrwege und in Sackgassen. Wer sich zu sehr darauf einlässt, kann mit- und in den eigenen Untergang gerissen werden.

Hier werden wir mit einem ‚Rätsel‘ konfrontiert, das einerseits gelöst wurde und andererseits mit einiger Wahrscheinlichkeit gar keines ist. Das Ergebnis ist dieses Buch, das aufwändig eine Geschichte erzählt, die im Finale abrupt in sich zusammenfällt und die Leser ratlos zurücklässt: Was ist es, das so viele Menschen in den Bann des Chandler/Nichols-Falls gezogen hat? Gibt es überhaupt ein Rätsel = das in diesem Buch mehr als angedeutete Leben eines nie entdeckten Kapitalkriminellen? Hat sich auch Autor Thibault Raisse allzu sehr einem Geheimnis genähert, das ein Vakuum ist? Er ist redlich genug, in seinem Nachwort zuzugeben, dass Chandler/Nichols einfach ein seltsamer Vogel gewesen sein könnte, der für seinen Geiz bekannt war und sich vor den Unterhaltungszahlungen für seine von ihm verlassene Familie drücken wollte.

Dennoch werden große Namen geraunt. War Chandler/Nichols womöglich der geniale, 1979 von Clint Eastwood dargestellte Frank Morris, dem im Juni 1962 die angeblich unmögliche Flucht von der Gefängnisinsel Alcatraz gelang? Oder „Dan Cooper“ der 1979 mit einem Koffer voller erpressten Geldes aus einer Verkehrsmaschine absprang und nie gefasst wurde? Oder gar der „Zodiac Killer“, der 1968/69 sieben Menschen meist tödlich attackierte und kryptische, einfallsreich verschlüsselte Botschaften verschickte? Tatsächlich gibt es nur unbeweisbare Theorien bzw. Spinnereien, die in diese Richtungen weisen. Hier wecken entsprechende Passagen den Verdacht, dass Raisse verzweifelt versucht, einem Werk Relevanz zu verleihen, das unterm Strich zwar eine interessante, aber eben nicht sensationelle Story beinhaltet.

Steter Tropfen höhlt nicht nur den Stein

Raisse liefert gute Arbeit, wenn er die schier aussichtslose Suche nach einem Herkunftsmysterium beschreibt, das durch Hartnäckigkeit und Köpfchen aufgeklärt werden konnte. Nachdem die unmittelbare Polizeifahndung aufgrund der mangelhaften Indizienlage eingestellt wurde, nahm man sie nach mehreren Jahren als „cold case“ wieder auf. Raisse widmet viele Seiten den ermüdenden, immer wieder scheiternden Nachforschungen, wobei der Ermittlungskreis immer weiter gezogen wurde.

Zu nie erlahmendem Eifer gesellte sich eine Technik, deren Fortschritt es ermöglichte, die wenigen Indizien neu auszuwerten. Auch dies war das Ergebnis einer vom Verfasser geschilderten Entwicklung, die in einer Dechiffrierung menschlicher DNS gipfelte, an die zum Zeitpunkt des Selbstmords nicht zu denken war. Hinzu kam die Zusammenarbeit über das ganze Land verteilter Menschen, die den Fall aus unterschiedlichen Blickwinkeln angingen und dabei zu unerwarteten Erkenntnissen kamen. Fakt ist, dass die Identität von Chandler/Nichols vor 2002 gegen jede Wahrscheinlichkeit aufgedeckt werden konnte. Seine Eltern, Verwandte und die verlassenen Kinder wurden gefunden und erfuhren - so noch am Leben - zum ersten Mal, wohin ihr Vater, Bruder, Neffe etc. verschwunden war.

Ebenfalls enthüllt wurde Chandler/Nichols’ eigenwilliger Charakter. Er war kein ‚normaler‘ Mensch, womöglich ein Soziopath - aber nicht zwangsläufig ein Mörder, wie es sich offensichtlich nicht nur der Autor wünschte. Es wäre ein Coup gewesen, hätte sich das Objekt seiner Neugier wie Gary Ridgway, der „Green River Killer“, Jahrzehnte nach vielfach begangenen Morden ebenfalls als (beinahe) perfekter Serientäter herausgestellt! Doch diese Gunst wurde Raisse vom Schicksal nicht gewährt. Es liegt sicher auch daran, dass dieses True-Crime-Garn nach einer großrahmig in Szene gesetzten Einleitung und einen entsprechenden breit angelegten Mittelteil urplötzlich eine dramaturgische Vollbremsung hinlegt, wenn der Autor die Karten auf den Tisch legen muss.

Dies sei die Geschichte eines Verschwindens, versucht sich der Autor im Epilog zu erklären, wobei er über Chandler/Nichols weit hinausgeht und politische, ökonomische und soziale Veränderungen des US-Alltags einbezogen sehen will; ein überaus, wohl zu radiusweites Rad, an dem er zu drehen vorgibt! Raisse hat sich viel Mühe gegeben und mit den an diesem Fall Beteiligten persönlich gesprochen. Doch das ändert nichts daran: Es schwelt, aber es kommt nie zum angekündigten Feuer. (Und wer ist es eigentlich, der „ein Vierteljahrhundert undercover“ ging? Chandler/Nichols war nie Polizist oder für die Justiz tätig.)

Fazit

Ein Rätsel wird zwar geknackt, aber dies nur zum Teil und dort, wo es die atemlos angekündigte Sensation nie betrifft. So verpufft das Interesse des sich genasgeführten Lesers an einem wohl gut recherchierten, aber letztlich ins Leere laufenden „True-Crime“-Sachbuch.

Das Phantom

Thibault Raisse, Kampa

Das Phantom

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