Sherlock Holmes
- Reclam
- Erschienen: Oktober 2024
- 0
Krimi-Universum auf 100 Buchseiten.
Sherlock Holmes ist die Schöpfung des Schriftstellers Arthur Conan Doyle (1859-1930), der zwischen 1887 und 1927 vier Romane und 56 Erzählungen um den Meisterdetektiv verfasste. Schon zu seinen Lebzeiten verwandelte sich Holmes in einen modernen Mythos, der von anderen Autoren und in anderen Medien aufgegriffen, weitererzählt und verändert wurde.
Die Figur und ihr spezielles Universum waren modellhaft für diesen Prozess. Doyle nutzte als Profi bereits damals bekannte Methoden, um beide in eine fortsetzungsideale Gestalt bzw. Form zu kleiden. Ein Fall von Sherlock Holmes folgt Mustern, was jenseits des Interesses, das sich während der Lektüre einer Story einstellt, den Wunsch nach einer Fortsetzung dieses Vergnügens weckt. Dem trug Doyle Rechnung, was die erwähnte multimediale Explosion ermöglichte und unterstützte.
Wie Doyle und Sherlock Holmes arbeiteten, ist Gegenstand unzähliger literarischer, aber auch historischer sowie naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Die Existenz einer wahren Bibliothek einschlägiger Sekundärliteratur ist ein weiteres Phänomen. Jedes Detail aus dem „Kanon“ - den originalen Romanen und Erzählungen - wurde buchstäblich auf die Goldwaage gelegt.
Facetten eines ebenso geschlossenen ...
Dieses Bändchen kann bzw. will dem nichts Neues hinzufügen, sondern das Phänomen erklären. Die Herausforderung liegt in der Beschränkung auf 100 Buchseiten. Aus einer Flut vorhandener Informationen jene herausgefiltert zu haben, die einen Überblick ermöglichen, ohne auf in diesem Zielzusammenhang vielleicht nicht relevante, aber interessante Details und Anekdoten zu verzichten, ist Autor Jürgen Kaube gelungen.
Er beginnt mit einem Blick auf den Detektivroman, der schon vor Doyle existierte, weil er das Bedürfnis des Menschen befriedigte, sich in der Sicherheit des trauten Heims spannend zu unterhalten und sich womöglich dem ewigen Rätsel des (menschlichen) Bösen zu nähern, ohne überfordert zu werden („Die Zeit mit den Detektiven“, S. 1-6). Anschließend führt Kaube in das eigentliche Holmes-Universum ein und beschäftigt sich mit dessen Konstanten („Der Berühmteste von allen“, S. 7-13; „Baker Street 221B“, S. 34-36; „Vier gute Gründe für Dr. John Watson“, S. 43-49; „Mycroft und Enola“, S. 50-54, „Das Wetter bei Holmes“, S. 55-58; „Der berühmteste Bluthund Englands“, S. 59-67). Er stellt uns jene drei Personen vor, nach deren Vorbild Doyle Holmes formte - die Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809-1849) und Robert Louis Stephenson (1850-1894) sowie den Arzt und Forensik-Pionier Joseph Bell (1837-1911) - und erläutert, wie sich deren Denken im Charakter des Detektivs widerspiegelt („Sherlocks Väter: Dupin, Bell, Stevenson“, S. 14-26).
Wichtige Grundsätzlichkeiten werden erklärt: Welche ‚Art‘ Detektiv ist Sherlock Holmes eigentlich („Der ‚Consulting Detective‘“, S. 27-33), und wie geht er vor - ein Aspekt, mit dessen Hilfe sich auch verdeutlichen lässt, dass und wie der Kriminalroman analog zur Genese der Kriminalistik als echte, Fachkenntnis einfordernde Methode zu einer (populären) Literaturform mit einem Millionenpublikum aufsteigen konnte („Deduktion, Induktion, Abduktion“, S. 37-42) und wie Doyle als schreibender ‚Handwerker‘ vorging („Spurenlegen als Erfolgsrezept“, S. 72-76).
… wie offenen Universums
Die Verwurzelung des Detektivs in einer zeitgenössischen, eigenen Gesetzen und Regeln folgenden Gesellschaft ist ein weiteres Standbein des Fundaments, auf dem der Holmes-Mythos damals wie heute ruht, ohne sich freilich darauf festlegen zu lassen („Ein Detektiv der ‚upper classes‘?“, S. 68-71). In einem Punkt sträubte sich Arthur Conan Doyle allerdings die Feder: Als in London der sehr reale Jack the Ripper umging, ignorierte er dessen allzu ‚moderne‘, unverhohlen sexuellen und blutigen Exzesse; sie passten nicht in das bürgerlich-gehobene Holmes-Bild des Verfassers. („Der fehlende Fall: Jack the Ripper“, S. 77-81; natürlich wurde die Konfrontation von Holmes und Jack von weniger empfindlichen Autoren nachgeholt.)
Die Unverwüstlichkeit der Holmes-Welt besitzt ungeachtet ihrer fixen Bausteine verlockende Entwicklungsmöglichkeiten. Der Detektiv kann in unterschiedlichen Zeiten (sogar in der Zukunft) agieren, vom Krimi zum Horror, zur Komödie etc. springen oder das Geschlecht wechseln, ohne dadurch seine typische Identität einzubüßen. Seit mehr als einem Jahrhundert gibt es ‚neue‘ Holmes-Romane und -Storys. Ihre Zahl stellt den Kanon weit in den Schatten. Hinzu kommen neue Medien. Längst ist Holmes im Internet oder als Game präsent und selbstverständlich aus Fernsehen und Film nicht mehr wegzudenken („Sherlock Holmes im Film“, S. 82-91).
Sherlock Holmes blieb als Symbolfigur verkörperter Sachlichkeit nicht einzigartig, aber das Maß aller Dinge. Der Kriminalroman fand dagegen zur Variation. Zur „Denkmaschine“ trat der sozial und emotional in die Gesellschaft eingebundene Detektiv. Agatha Christie oder Gilbert Keith Chesteron ließen Miss Marple und Hercule Poirot bzw. Father Brown quasi zeitgleich ermitteln, während sich „hartgesottene“ Ermittler der Hammett- oder Chandler-Schule buchstäblich durch ihre Nachforschungen schlugen („Gegenentwürfe“, S. 92-100).
Kürze = Würze
Seit einigen Jahren existiert die Reihe „Reclam 100 Seiten“. Die Anzahl der Titel ist beträchtlich und nimmt stetig zu. Dies könnte man zynisch als Beweis dafür zitieren, dass die Millennials weder fähig noch bereit sind, Informationssammlungen anzunehmen, die mehr als die erwähnte Seitenzahl umfassen. Andererseits unterstreichen Titel wie der hier vorgestellte das Plus des Konzepts: Ein wahrlich komplexes Thema kann tatsächlich so gerafft werden, dass sich der gewünschte Erkenntnisertrag binnen eines überschaubaren Zeitrahmens einstellt.
Autor Kaube greift heraus, was den Mythos Sherlock Holmes ausmacht. Gleichzeitig löst er sich von der reinen Faktensammlung bzw. stellt die Fakten in einen Sinnzusammenhang. Kaube rafft, fasst zusammen, interpretiert und schafft so einen Text, der aus Sicht des beinharten „Sherlockians“ lückenhaft wirken dürfte. Dies würde zu kurz greifen, denn am Ende der Lektüre steht die Einsicht, sich dem Holmes-Kosmos genähert zu haben bzw. ihn (besser) zu verstehen.
Dass dieses Büchlein jenseits seines Informationswertes so lesenswert ist, liegt auch an einem Verfasser, der sein Material nicht nur parat hat, sondern es in Worten und Sätzen präsentiert, die eine Lektüre vergnüglich machen. „Sachlich“ zu bleiben bedeutet keineswegs wortkarg und nüchtern zu sein. Sprache ist ein Instrument. Sie kann mehrstimmig eingesetzt werden, ohne an Eindeutigkeit einzubüßen.
Fazit
Stark geraffte, aber ihren Zweck erfüllende, nicht auf das anekdotische Detail fixierte, sondern das Thema insgesamt im Blickfeld behaltende und auf zentrale Fragestellungen gerichtete, dazu nicht nur inhaltlich gute = präzise, sondern auch stilistisch gelungene = lesenswerte Darstellung.
Jürgen Kaube, Reclam
Deine Meinung zu »Sherlock Holmes«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!