C.S.I. Las Vegas im Bosch/Ballard-Style.
Wieder einmal rettet Detective Renée Ballard den Alt-Ermittler Harry Bosch vor dem gefürchteten Rentnerdasein. Sie hat die Robbery-Homicide-Division des Los Angeles Police Departments verlassen, als die Abteilung „Offen/Ungelöst“ wiederbelebt wurde. Als diese zum ersten Mal existierte, hatte Bosch dort bereits als Ermittler gearbeitet: Aus seiner aktiven Polizei-Zeit gibt es diverse, nie aufgeklärte Fälle, die der alte Jäger weder vergessen kann noch will.
Ganz oben auf der Liste steht Finbar McShane. Er tötete 2013 die Familie Gallagher (Vater, Mutter, zwei Kinder) und vergrub ihre Leichen in der Wüste nahe Las Vegas. Nur durch Zufall wurden sie gefunden. Damals war Bosch eher am Rand in die Fahndung involviert, aber dieser Fall ging ihm nahe. Er hat sich geschworen, den Täter zu finden und zu fassen. Die Ressourcen von „Offen/Ungelöst“ eröffnen Bosch neue Möglichkeiten.
Allerdings gibt es einen Haken: Dass die Abteilung erneut existiert, verdankt sie in erster Linie der Unterstützung durch Stadtrat Jake Pearlman. Ihn treibt durchaus das Gemeinwohl um, aber er will endlich den Mord an seiner Schwester Sarah gesühnt wissen, die 1994 in Hollywood umgebracht wurde.
„Offen/Ungelöst“ setzt sich aus sechs ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen und Ballard als einzige hauptberufliche Ermittlerin zusammen. Harry Bosch kommt mit der ihm eigenen Mischung aus gnadenloser Effizienz und seinem Hang zu Alleingängen über sie, was rasch die üblichen Probleme aufwirft. Aber Bosch hat sein Handwerk nicht verlernt. In beide Fälle kommt Bewegung, was seitens der Täter nicht unbemerkt bleibt ...
Die Klippe der Rechtschaffenheit
Bereits zum fünften Mal ermittelt Hieronymus „Harry“ Bosch an der Seite von Renée Ballard. Zuvor hatte er 24 Roman-Fälle im Alleingang gelöst und war mehrfach als Nebenfigur in jenen Krimis aufgetreten, die Autor Michael Connelly seinem Halbbruder Mickey Haller, den „Lincoln-Lawyer“, auf den Leib geschrieben hatte: Bosch, Ballard und Haller gehören zum „Connellyversum“, in dem sich diese und andere Figuren des Verfassers über den Weg laufen können. So entstand ein Netzwerk, das u. a. auffangen kann, dass Harry Bosch allmählich das Ende seiner Laufzeit als Romanfigur/Ermittler erreicht.
Bosch altert chronologisch korrekt, was ihn nach fünf Jahrzehnten einer aufreibenden Tätigkeit, die er als (typischer, d. h. mit einschlägigen Traumata geschlagener) Vietnam-Veteran begann, um seine manchmal erratisch wirkende Energie anschließend in die Tätigkeit als Ermittler einfließen zu lassen. Immer wieder eckte Bosch an, wobei vor allem vorschriftsverliebte Vorgesetzte, karrierekonzentrierte Politiker und nach dem Sensationseffekt haschende Medienvertreter seinen Zorn erregten; dies hat sich in „Wüstenstern“ höchstens gemildert, jedoch keineswegs geändert. Bosch geht entschlossener seine eigenen Wege als in den ersten vier Romanen dieser Serie, die ihm eine jüngere, aber ähnlich gepolte Ermittlerin an die Seite stellen.
Dies erstaunt nicht wirklich, denn obwohl Harry Bosch im LAPD als warnendes Beispiel für allzu eifrige, die Spielregeln des Erfolgs zugunsten der Fallklärung ignorierende Quertreiber gilt, genießt er dort einen guten Ruf, wo weiterhin das Gesetz und dessen Durchsetzung im Mittelpunkt stehen. Renée Ballard betrachtet Bosch als Mentor, dem sie in der Konsequenz des Handelns (noch) nicht das Wasser reichen kann oder will. Während Bosch seine Karriere längst hinter sich hat, versucht Ballard das System von Innen zum Besseren zu ändern.
Frische Knochen für einen alten Jagdhund
Bosch fürchtet den endgültigen Ruhestand, weil ihn dies seiner selbst gewählten Mission fernhält. Er will Kapitalverbrecher stellen und der Gerechtigkeit zuführen. Dazu ist er nun bereiter denn je, die Hindernisse einer Polizeiarbeit, die der Vorschrift mehr Gewicht gibt als dem Ergebnis, hinter sich zu lassen. So weit ist Ballard nicht, was immer wieder für Konflikte sorgt, weil Bosch sich selbstständig gemacht hat und außer Kontrolle die Möglichkeiten nutzt, die sein neuer Job ihm bietet.
Der Zweck heiligte für Bosch schon immer die Mittel. Connelly sorgt für zusätzliche Dramatik, indem er die fragile Gesundheit des alten Polizisten ins Spiel bringt: Bosch will unbedingt den Gallagher-Fall lösen. Endlich kehrt Connelly zum ursprünglichen Bosch-Charakter zurück, der zwiespältig zu bewerten ist (und in seinem mit Gesetz und Moral ‚spielenden‘ Halbbruder Mickey Haller ein Spiegelbild findet). Bosch ist kein liebenswerter Mensch. In jungen Jahren stieg er in Vietnam in die Tunnel des Vietkongs hinab, um dort in der Dunkelheit Männer im Nahkampf zu töten; eine nie verlernte Fertigkeit, die ihm im Finale von „Wüstenstern“ einen lebenserhaltenden Dienst erweist.
Unabhängig davon ist Bosch der ideale Ermittler. Erfahrung und Instinkt sind durch das Alter ungebrochen. Dies ermöglicht ihm, nicht nur den Gallagher-Mehrfachmord zu klären, sondern auch den eigentlich ‚eiskalten‘ Pearlman-Fall wiederzubeleben. Harry Bosch wird nicht Mitglied von „Offen/Ungelöst“, um seine Freizeit totzuschlagen. Selbst Ballard, die ihn kennen sollte, unterschätzt die Wucht, mit der Bosch die Abteilung einerseits instrumentalisiert, während er andererseits dort für jenen Schwung sorgt, den Ballard gleichermaßen erhofft wie gefürchtet hat.
Kein Fall darf vergessen werden
Wie so oft besteht die Handlung aus zwei nebeneinander ablaufenden Strängen, die sich dieses Mal nicht zu einem ‚überraschenden‘ Aufklärungsknoten schlingen. Diesen Weg ist Connelly mehrfach gegangen, aber ihm ist die plausible Verknüpfung keineswegs immer gelungen, weshalb positiv zu bewerten ist, dass er in „Wüstenstern“ darauf verzichtet.
Harry Bosch ermittelt in dieser Sache routiniert, während Renée Ballard jene Dienstwege gehen muss, die Connelly seit jeher gern detailliert schildert, um die Stolpersteine einer effizienten Polizeiarbeit zu geißeln. Das Los Angeles Police Department ist berüchtigt für eine längst nicht überwundene Geschichte, die reich an Korruption, Rassismus und Gewalt im Dienst ist. Connelly kann und will dies nicht ignorieren; er sucht nicht nach Entschuldigungen, sondern nach Erklärungen - ein Seiltanz, der nie seine unerhörte Kenntnis polizei- und justizalltäglicher Interna, aber seine Subjektivität in Frage stellt. Kriminelle, überehrgeizige oder unfähige Beamte sind für Connelly kein Symptom für Schwächen im System, sondern Einzelfälle, die sich vor allem unter den höheren Rängen finden lassen.
Nach mehr als drei Jahrzehnten, in denen Connelly als Autor überaus fleißig gewesen ist, versteht er die Finessen, mit denen sich eine Kriminalgeschichte erzählen lässt. Man muss ihn gerade heutzutage für den konsequenten Verzicht auf ausufernde Zwischenmenschlichkeiten und hier besonders seitenfressende Liebeshändel rühmen. Connelly unterschlägt keineswegs, dass seine Figuren Menschen mit privaten Problemen sind. Diese überwuchern jedoch nie das zentrale Geschehen: Auch „Wüstenstern“ ist ein Krimi, kein Psycho-Drama. Der Ton ist sachlich, manchmal geradezu dokumentarisch. Seelentiefe wird nicht zum Treibsand, in dem die unablässig vorangetriebene Handlung steckenbleibt.
Fazit
Ein Ermittlerteam klärt zwei separate Kriminalfälle auf. Im Mittelpunkt steht verfassertypisch die Polizeiarbeit mit ihren Routinen und (bösen) Überraschungen. Obwohl Teil einer schon lange laufenden Serie, trägt dieses Konzept; zumal der Autor sein Publikum mit Andeutungen beunruhigt, die wenig Gutes für eine ungemein beliebte Hauptfigur anzukündigen scheinen: solides Lesefutter mit Unterhaltungs-Garantie.
Michael Connelly, Kampa
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