Mord bei 45 Touren

  • Rowohlt
  • Erschienen: September 2018
  • 0
Mord bei 45 Touren
Mord bei 45 Touren
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2024

Wer liebt, der lügt - und tötet.

Ein Widerling und Ehebrecher ist er und sieht aus wie Quasimodos älterer Bruder: Maurice Faugères, dem die Götter das Talent verliehen, die Liebe, die er im Alltag verspottet, in Lieder zu gießen, denen die ganze Welt mit Tränen in den Augen lauscht. Steinreich ist Faugères geworden, prominent sowieso, und er hat natürlich eine Königin als Gattin heimgeführt: Eve ist eine der berühmtesten Sängerinnen Frankreichs.

Sie hasst ihren Ehemann und hat längst Trost beim deutlich jüngeren Pianisten Jean Leprat gefunden. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hat das Paar Faugères unterschätzt. Der spürt die Hörner auf seinem Kopf und gedenkt nicht Eve zuzugestehen, was er selbst oft und gern praktiziert. Das sagt er den Liebenden auf den Kopf zu, als er sie in flagranti erwischt. Weil er dabei gar zu höhnisch wird, schlägt ihm der gedemütigte Leprat den Schädel mit einem Kerzenleuchter ein. Niemand hat Faugères kommen sehen. Sein Mörder nutzt dies, um einen scheinbar tödlichen Verkehrsunfall zu inszenieren; Eve deckt das Verbrechen.

Endlich scheint der Weg frei zu sein für sie und den Geliebten, zumal die Polizei keinen Verdacht schöpft. Deshalb ist der Schrecken des mörderischen Paars groß, als die Post eine Schallplatte bringt. Bei einer Umdrehungszahl von 45 Touren ertönt die Stimme des verhassten Faugères, der offenbar aus dem Grab ankündigt, sich für sein Ende grausam rächen zu wollen. Da weder Eve noch Jean an Gespenster glauben, liegt der Verdacht nahe, dass jemand ein grausames Spiel treibt. Aber wer könnte der Feind sein, wo doch der einzige Mensch tot ist, der von ihrem Verhältnis wusste? Als weitere und immer bedrohlichere Schallplatten-Nachrichten eintreffen, beginnen die Liebenden einander zu misstrauen. Die Tat hat sie auf Gedeih und Verderb aneinander gefesselt, doch das Verhängnis nimmt einen unerwarteten Verlauf …

Liebe als zerstörerische Kraft

„Mord bei 45 Touren“ ist ein Krimi-Klassiker des französischen Schriftsteller-Duos Pierre Boileau (1906-1989) und Thomas Narcejac (1908-1998). Sie verdanken ihren Ruhm u. a. dem Roman „D’entre les morts“, den Alfred Hitchcock 1957 kongenial in den Kinofilm „Vertigo“ (dt. „Vertigo - Aus dem Reich der Toten“, mit James Stewart und Kim Novak) verwandelte. Schon diese Geschichte trug jenes Markenzeichen, das Boileau-Narcejac oft in Anspruch nahmen: amour-fou, die tolle, verrückte Liebe, die alle Regeln bricht, kurz triumphiert oder aufflammt, aber vom profanen, unerbittlichen Alltag überrollt wird bzw. sich selbst zerstört.

Eve und Jean spielen dies beispielhaft durch. Ihre Liebe ist von der ersten Sekunde zum Untergang verdammt. Nicht das Establishment trägt die Alleinschuld, auch nicht der fiese Gatte, der selbst nur das Opfer von Leidenschaften wird, die zu kontrollieren er außerstande ist. Die Liebenden tragen den Keim ihres Verderbens in sich; erst wissen sie es nicht, dann wollen sie es nicht wahrhaben, und zuletzt ergeben sie sich ihm. Wer meint, zumindest Jean käme mit heiler Haut aus dem Drama heraus, hat wahrlich flüchtig gelesen.

Wieso die Liebe gefährlich sein kann, spielen Boileau-Narcejac auf 150 ebenso kurzen wie auf das Wesentliche konzentrierten Seiten konsequent und erbarmungslos durch. Die Chronik dieser mörderischen, sich selbst zerfleischenden Liebe übt auch heute noch eine verstörende Wirkung aus, obwohl die Story Staub angesetzt hat - oder sollte man besser von Patina sprechen? Botschaften aus dem Totenreich werden längst nicht mehr per Schallplatte übermittelt, aber die Liebschaft zwischen einem recht jungen und einer deutlich älteren Frau findet weiterhin das Interesse der Öffentlichkeit.

Krimi wird zur Nebensache

Überhaupt überrascht „Mord bei 45 Touren“ mit einer vergleichsweise unverkrampften Haltung bezüglich der Alltäglichkeiten des Lebens. Während Anno 1961 „Krimi“ für den deutschen Leser primär Falltür-Edgar Wallace, Pfäfflein Brown oder Grandmutter Christie bedeutete, riskierten Boileau-Narcejac den Untergang des Abendlandes mit einer durchaus realistischen Dreiecks-Geschichte. Noch siegt die Moral - dies aber nicht, weil sie halt immer siegt (oder siegen muss, solange es politisch opportun ist), sondern weil Eve das Spiel freiwillig aufgibt; mit ein bisschen Nervenstärke hätte Kommissar Borel weiterhin in die Röhre geschaut.

Deshalb sei noch einmal ‚warnend‘ hervorgehoben, dass „Mord bei 45 Touren“ seine eigentliche Spannung aus dem Untergang von Eve und Jean zieht. Kriminalistische Rätsel kommen zwar vor - wer begeht den zweiten Mord? -, aber sie sind nicht wirklich wichtig. Auch sonst geschieht wenig, das Drama ist ein psychologisches.

Die Strafe für gesetzlich und/oder moralisches Versagen besteht darin, in dem Wissen weiterleben zu müssen, dass sich jemand nicht nur geopfert, sondern auch den Nutznießer in seiner Erbärmlichkeit durchschaut hat. Das ist wahrlich perfide und wirkt als Finale weitaus stärker als der kindliche Triumph des Gendarmen Greif oder des Detektivs Schlau, deren ‚Ermittlungen‘ der brave Bürger liebt, weil sie ihm die beruhigende Illusion erhalten, in einer geordneten Welt zu leben.

„Mord bei 45 Touren“ in Kino und Fernsehen

Bereits 1959 wurde der Roman unter dem Titel „Meutre en 45 Tours“ von Etienne Périer mit Danielle Darrieux, Michel Auclair und Jean Servais verfilmt. Für das tschechoslowakische Fernsehen wurde 1978 „Ztrácím te, lásko“ gedreht. Als „45 kaiten no satsujin“ entstand 1982 ein weiteres Remake für das japanische Fernsehen. Nach Frankreich kehrte der Stoff 1994 für den Film „Meurtre en musique“ zurück. Die schon erwähnte Zeitlosigkeit belegt u. a. die für das französische Fernsehen 2023 unter dem Titel „Adieu Venyle“ entstandene Fassung, in der niemand Geringere als Isabelle Adjani in die Rolle der Eve Faugères schlüpfte.

Fazit

Eine kurze, aber drastische Lektion in Sachen Liebe (oder was dafür gehalten wird), die in Mord & Totschlag umschlägt. Obwohl sichtlich angejahrt bzw. gealtert, kann der Roman aufgrund des raffiniert geschürzten und unerwartet aufgelösten Plots weiterhin fesseln.

Mord bei 45 Touren

Pierre Boileau & Thomas Narcejac, Rowohlt

Mord bei 45 Touren

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