Täter und Opfer - wer ist eigentlich was?
Es gibt nichts, was der zehnjährige Darwyne auf der Welt lieber hat als seine wunderschöne Mama Yolanda. Mit ihr lebt er am Rande des Amazonasdschungels in einer kleinen Hütte am Rande eines Slums und natürlich ist das Leben hart. Aber so lange Mama da ist, ist alles gut. Auch wenn sie ihn oft als "dreckiges, kleines Opossum" bezeichnet. Mama scheint es aber nicht allein mit ihm auszuhalten und daher bekommt er immer wieder einen neuen Stiefpapa. Mit denen ist es immer dasselbe. Zuerst schauen sie ihn gar nicht erst an, dann fangen sie an, ihn anzuschreien und dann schlagen sie ihn - mal einfach mit der Hand, mal mit Knüppeln aus dem Busch. Irgendwann ziehen sie - vielleicht entnervt - weiter. Dann beginnt wieder die schöne Zeit - alleine mit seiner Mama. Jetzt aber ist es doch ganz hart gekommen: Nicht nur, dass Mama einen neuen Stiefpapa angeschleppt hat. Eines Tages fängt auch noch eine Sozialarbeiterin an, bei ihnen herumzuschnüffeln. Ihr hat irgendwer erzählt, dass es zwischen Darwyne und den Stiefpapas nicht gut läuft. Darwyne will aber auf gar keinen Fall von seiner Mama weg. Andererseits will er auch nicht über seine Stiefpapas reden - dass es doch so ziemlich viele waren und dass sie alle plötzlich weg gegangen sind. Man könnte auch spurlos "verschwunden sind" sagen…
Ein eigenartiges Kind in einer seltsamen Familie
Es ist ein besonderes Leben, vom dem Colin Niel hier mit seinem Roman "Darwyne" erzählt. Er handelt von dem Leben am Rande der Gesellschaft. In einem Slum in Französisch-Guyanas lebt Darwyne mit seiner Mutter und verglichen mit seiner "ganz normalen" Schwester Ladymia scheint er ein kleiner Wechselbalg zu sein, den die Waldgötter gegen das "ganz normale" Baby seiner Mutter getauscht habe. Darwyne kennt sich wie keiner im Dschungel aus. Sicher wandert er auf den verschlungenen Pfaden, wo sich jeder sofort verlaufen würde, er kennt die Rufe der Tiere und kann diese mittels selbst hergestellter Lockflöten rufen. Was aber hat es mit dem leicht verkrüppelten Jungen auf sich? ist er ein besonderes Bindeglied zwischen dem Menschen und dem Dschungel? Ist er ein kleiner Racheengel, den die Natur entsandte, um die Menschen für die vielen von ihnen geschlagenen Wunden zu bestrafen? Oder ist er doch nur ein verwirrtes Kind, das den Machenschaften der Erwachsenen hilflos gegenübersteht?
Mystische Elemente oder schlichte Kindesmisshandlung?
Mich ließ Niels Thriller ein wenig ratlos zurück. Erzählt wird eigentlich von einer Vielzahl von Verbrechen und von befremdlichen Vorfällen: Da ist Yolanda Massily, Darwyns betörende Mutter, die unbedingt versucht aus ihrem kleinen Wildfang einen "normalen" Jungen zu machen. Ihre Erziehungsmethoden gehen über das, was man archaisch nennen könnte, weit hinaus. Die Hausaufgabenbetreuung funktioniert buchstäblich nur mit Waffengewalt; verhält er sich unbotmäßig, warten drakonische, schmerzhafte Strafen auf ihn. "Denn", so sagt sich seine Mutter "Wer sich wie ein Tier verhält, wird auch wie ein solches behandelt." Darwyne andererseits scheinen diese Methoden nicht einmal viel auszumachen. Über sein Seelenleben erfährt der Leser so gut wie nichts, seine Gedankenwelt bleibt so verschlossen, wie der immergrüne Dschungel, der auch seine Geheimnisse gut zu bewahren weiß. Je mehr der Leser eigentlich von dem Jungen liest, umso mehr wird er zum Rätsel. Zu guter Letzt wären da auch noch seine Stiefväter - hier genauer dargestellt am Falle des Jhonson. Es ist unbestritten, dass sie den Jungen misshandeln - unklar bleibt aber auch, welchen Schaden seine Seele davon genommen hat - noch unklarer, ob ihre Taten nicht alsbald bestraft wurden.
Klar beschrieben wird einzig die Sozialarbeiterin Mathurine, die nach einer anonymen Anzeige dem Verdacht auf Kindesmisshandlung nachgeht. Sie, die sich selber verzweifelt ein Kind wünscht, beginnt die Besonderheiten in Darwyne zu erkennen und allein ihr gelingt es, ihm einen Teil seiner Geheimnisse zu entlocken. Mathurine ist es dann auch, die die Vielschichtigkeit in seinem Leben und seiner Familie erkennt: Da sind die eigenartigen Verwachsungen des für unsere Maßstäbe körperbehinderten Kindes, die es aber offensichtlich für seine Zwecke zu nutzen weiß, da sind die Erzählungen über die brutalen Erziehungsmethoden der Mutter und letztendlich die Berichte über die plötzlichen Ängste der vielen Stiefväter, die deren Verschwinden hervorgingen. Letztendlich ist sie es auch, die vielleicht Darwynes eigentlichem Geheimnis am nächsten kommt und dennoch werden ihre besonderen Umstände sie zu einer ähnlich schweigenden Mitwisserin machen, wie der finstere Dschungel.
Fazit
Colin Niel erzählt eine eigenartige Geschichte von einem Wanderer zwischen den Welten. Ist er Opfer - ist er Täter - ist er einfach nur geistig und körperlich gehandicapt? Möglicherweise wird die Frage beantwortet - möglicherweise ist er alles - oder auch keines. Sicher ist aber eines: Wer hier den klassischen "Thriller" erwartet, dessen Erwartungen werden möglicherweise nicht erfüllt.
Colin Niel, Suhrkamp
Deine Meinung zu »Darwyne«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!