Die Bezauberer
- Winterzeit Verlag, Ullstein
- Erschienen: Juni 2024
- 0
Marilyn Monroe in Ellroys Hollywood-Hölle.
Los Angeles ist im August 1962 nicht nur aufgrund der Sommerhitze ein heißes Pflaster. Das organisierte Verbrechen ist allgegenwärtig, die Polizei hilfreich = korrupt, auch die Medien käuflich bzw. bereit, sich für die Mächtigen instrumentalisieren zu lassen. Die Filmindustrie von Hollywood ist ein Höllenpfuhl, in dem die zu Stars aufgebauten Schauspieler/innen im Netz ihrer erfundenen Lebensgeschichten zappeln. Wer endgültig ausgepresst wurde oder aus der Reihe tanzt, wird gnadenlos abserviert, wobei körperliche Gewalt und Mord übliche Praktiken sind.
In diesem Sud fühlt sich Fred Otash wie das sprichwörtliche Schwein in der Suhle. Der ehemalige Beamte des wegen seiner Brutalität gefürchteten Los Angeles Police Departments hat sich als Privatdetektiv selbstständig gemacht und übernimmt gern riskant-lukrative = besonders schmierige Jobs. Aktuell ist Jimmy Hoffa, der mächtige, eng mit der Mafia verbandelte Gewerkschaftsboss, sein Klient. Für ihn soll Otash Dreck über seine Feinde ausgraben. John F. Kennedy ist der US-Präsident, Robert „Bobby“ Kennedy sein Bruder und Generalstaatsanwalt.
John ist ein notorisch untreuer Frauenheld, Bobby deckt seine Fremdgänge, und angeblich ‚teilen‘ sich die Brüder eine der aktuell schönsten Frauen der Welt: Marilyn Monroe, deren Karriere allerdings in der Krise steckt, weil sie ihre Depressionen ebenso wenig in den Griff bekommt wie ihre Alkohol- und Medikamentensucht. Auch über sie soll Otash kennedyschädliches Material sammeln und verwanzt deshalb Monroes Haus. Was er in den folgenden Monaten erschnüffelt, fügt sich jedoch zu einem gänzlich unerwarteten Bild und beschert Otash ein (Mit-) Wissen, das ihn selbst in Lebensgefahr bringt …
Wen die Götter lieben ...
Der 4. August 1962 wurde für sämtliche Medien weltweit zu einem Festtag. Im Bett ihres Bungalows wurde in Hollywood die ebenso berühmte wie berüchtigte Schauspielerin Marilyn Monroe aufgefunden. Sie hatte sich mit einem Cocktail aus Alkohol, Beruhigungs- und Schlafmitteln entweder versehentlich oder absichtlich umgebracht.
Schon in den Monaten vor ihrem Ende hatte Monroe für Schlagzeilen gesorgt. Am Set ihres aktuellen Filmprojekts „Something Gotta Give“ tauchte sie entweder verspätet oder gar nicht auf, war launisch, zugedröhnt oder krank, bis das Studio „20th Century Fox“ sie schließlich entnervt gefeuert (und auf Schadenersatz verklagt) hatte. Monroes Privatleben galt als desaströses Durcheinander, psychisch war sie angeschlagen, echte Hilfe fand sie nicht, da sie als Skandalobjekt wesentlich interessanter und einträglicher war.
Hinzu kam Monroes kompliziertes Liebesleben, das sie in gefährliche Untiefen führte. Sie war sowohl mit dem Präsidenten der USA als auch mit dem Generalstaatsanwalt verbandelt. John F. und Robert Kennedy waren außerdem Brüder, verheiratet und Familienväter. Eine Offenlegung ihres Treibens hätte ihnen politisch und privat enormen Schaden zugefügt. (Autor Ellroy geht allerdings davon aus, dass „Bobby“ zu scheinheilig war, um sich in Marilyns Bett zu trauen, und beschränkt ihn auf die Rolle des Ausputzers, der systematisch die Wahrheit über seinen Präsidentenbruder vertuscht.)
... den (oder die) peinigen sie besonders heftig
Dies war der Dünger für jenen Mythos, dass Marilyn Monroe als riskant gewordene Gespielin mächtiger Männer von deren skrupellosen Schergen umgebracht = zum Schweigen gebracht wurde. Echte Beweise konnten dafür nie gefunden werden, während ‚Indizien‘ eben doch in diese Richtung deuten: Fundament genug für eine ‚parallele‘ Geschichtsschreibung, die ihre Quellen selbst erfindet und sich an dem orientiert, was ihre Verfechter als ‚Tatsachen‘ sehen wollen.
In die lange Reihe mehr oder weniger obskurer ‚Journalisten‘, ‚Ermittler‘ oder ‚Historiker‘ reiht sich nunmehr James Ellroy ein, der jedoch nicht wirklich diesem Milieu angehört, es aber nutzt, um seine alternative Geschichte der modernen USA fortzuschreiben. Fakten sind für Ellroy Spielsteine einer Fiktion, die diese jüngere Vergangenheit in einen Fiebertraum verwandelt. Das Verbrechen ist an der Seite von Politik, Justiz, Wirtschaft und Medien, denn die Mächtigen sind diesseits wie jenseits des Gesetzes gierig, korrupt und bereit über Leichen zu gehen. So lernen wir Fred Otash kennen, der gemeinsam mit einigen bestechlichen Polizisten einen ‚von oben‘ sanktionierten Mord begeht; ein selbstverständliches Prozedere, mit dem Ellroy nicht zum ersten Mal den Auftritt eines ‚Helden‘ dramatisch unterstreicht.
Frank Otash hat es tatsächlich gegeben. Er lebte von 1922 bis 1992, und er war ein Zeitzeuge, der in seinen Eigenschaften als Polizist und Privatermittler viele sorgfältig geheimgehaltene Film- und Politikskandale kannte. Ellroy nutzt gern reale Figuren der Zeitgeschichte, deren Viten er durch seinen Hirn-Mixer jagt und den so entstandenen Faktenbrei dem von ihm entfesselten Treiben unterhebt. Dass er dabei Gerüchte in den Rang von Tatsachen erhebt und die Wahrheit womöglich mit Füßen tritt, ist ihm gleichgültig: Ellroy geht es um die Schaffung eines Miniatur-Universums, in dem er der Meister ist und wo er die Fakten so umstellt und deutet, wie es ihm in sein Gesamtbild passt.
Der Zwang zu graben
„Delirium“ ist ein Wort, das einem während der Lektüre immer wieder in den Sinn kommt. Es kennzeichnet Ellroys Hollywood als Hexenkessel, dessen Abgründe eine krankhafte Faszination ausstrahlen. Als junger Mann war Ellroy wie sein literarisches Alter Ego Fred Otash ein zwanghafter, von Alkohol und Drogen benebelter Spanner, der in fremde Wohnungen und Häuser einbrach, um dort nach einer menschlichen Nähe zu suchen, die er nicht kannte. Ellroys Jugend war trostlos; seine promiskuitive Mutter wurde 1958 ermordet, ein Familienleben gab es nicht. Als Süchtiger und Kleinkrimineller trieb er einem frühen Ende entgegen, dem er wie durch ein Wunder und einerseits entkam, während er andererseits schreibend immer wieder in sie zurückkehrt.
Mit Otash entfesselt Ellroy wieder jene Leidenschaften, die ihn einst selbst jagten. Schon in „Widspread Panic“ (dt. „Allgemeine Panik“) hatte er den Ex-Cop, Ex-Reporter und Ex-Privatdetektiv in den Mittelpunkt eines Geschehens gestellt, das durch Otash’ Gier nach den Schattenseiten des Lebens geprägt wurde. Er liebt es im Dreck zu wühlen und nach dunklen Geheimnissen zu graben. Ellroy unterstreicht und verdeutlicht es, indem er Otash mit einem eidetischen Gedächtnis ausstattet, das ihn nicht vergessen lässt und quält, wenn er ein Rätsel nicht lösen kann. Dass Otash dabei sein Leben völlig gegen die Wand fährt, ist ihm gleichgültig; er geht sehenden Auges in den Untergang.
Allerdings stellt Otash unter Druck einen bemerkenswerten bzw. verzweifelten Überlebenswillen an den Tag. Er eckt bei allen an, die ihn wahlweise für ihre Dienste einspannen oder umbringen wollen; Freunde und Feinde können immer wieder wechseln. Dieses Mal legt sich Otash mit der US-Regierung, dem Justizminister, der Polizei von Los Angeles, mächtigen Wirtschaftsbossen und brutalen Kriminellen an. Mehr als einmal steht er mit dem Rücken zur Wand, doch er findet stets ein Schlupfloch - und taucht noch tiefer in den LA/Hollywood-Sumpf ab. „The Enchanters“ - „Die Bezauberer“ - betitelt Ellroy sein Werk, doch eigentlich geht es um schwarze Magie.
Der Getriebene
Im achten Lebensjahrzehnt lässt Ellroys Arbeitstempo nicht nach. Beinahe jährlich legt er seitenstarke Bücher vor; die Flamme brennt offensichtlich weiterhin heiß in ihm. Die Herausforderung wird dabei immer größer, denn die Handlungen springen in jenem Zeitraum hin und her, auf den sich Ellroy kapriziert hat - etwa die Jahre zwischen 1935 und 1970. Figuren tauchen immer wieder auf und müssen in ein immer dichter werdendes Netz alternativer ‚Fakten‘ eingebunden werden, ohne dort Widersprüche aufzuwerfen. Offenbar verfügt auch Ellroy über ein eidetisches Gedächtnis, denn er jongliert mit Fakten und Fiktionen, ohne dabei einen Ball fallen zu lassen.
Stilistisch hat Ellroy glücklicherweise sein Gleichgewicht gefunden. Lange schien es so, als zerfasere sein Werk zu einem Wirbel willkürlicher auf das Papier geworfener Wörter bzw. kurzer; ‚zerbrochener‘ Sätze. Dies sorgte für Momentaufnahmen jenes Irrsinns, den Ellroy offenbar anders nicht mehr darstellen konnte. Sein Stil bleibt weiterhin dem Effekt unterworfen, während Grammatik und Wortwahl sich dem unterwerfen müssen. Nichtsdestotrotz existiert wieder ein formales Fundament, auf dem sich die Geschichte lesbar voranbewegt.
So bleibt „Die Bezauberer“ auch bzw. noch mehr als „Allgemeine Panik“ der „zweiten L.-A.--Chronik“ überlegen, von der bisher zwei monströs seitenstarke Bände vorliegen. Auch „Die Bezauberer“ ist ein Buch-Brocken, doch Ellroy hält die Fäden über die gesamte Distanz spürbar fest in der Hand. Ihm gelingen Überraschungen, die in einer hanebüchenen, aber in ihrer Absurdität plausiblen und gleich mehrfach ‚twistenden‘ Auflösung gipfeln, die den Tod von Marilyn Monroe in einen Zusammenhang stellt, der Verschwörungsfanatikern nicht zwangsläufig gefallen dürfte. Tragik und Bosheit liegen für Ellroy stets dicht beieinander. Erneut hat er dafür starke Worte bzw. Bilder gefunden.
Fazit
Mit der üblichen Intensität taucht James Ellroy abermals in seine ganz persönliche (US-) Vergangenheit ab und nutzt den Mythos Marilyn Monroe, um ein ebenso erstickendes wie faszinierendes Netz aus Politik und Verbrechen, Korruption und Besessenheit zu weben: Lektüre mit erheblicher Sogwirkung!
James Ellroy, Winterzeit Verlag, Ullstein
Deine Meinung zu »Die Bezauberer«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!