Im Keime erstickt

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  • Erschienen: Januar 1964
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Im Keime erstickt
Im Keime erstickt
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonJul 2024

Unschuldsengel auf der Flucht.

Ina Kell ist ein lupenreines Landei, das die Sehnsucht nach einem aufregenden Leben in die große Stadt New York gelockt hat. Das Schicksal erfüllt ihr diesen Wunsch auf unerwartete und erschreckende Weise: Vom Lärm aus der Nachbarwohnung angelockt, steht die junge Frau vor einer Leiche. Der Komiker Tony Fagan wurde buchstäblich totgeschlagen - und Ina hat gesehen, wer aus der Wohnung kam!

Winston H. Gault ist der junge Erbe einer lukrativen Fabrik für Tiefkühlkost. Fagans Radiosendung wurde von dieser Firma gesponsert. Allerdings hatte der Komiker betrunken hässliche Witze über seinen Geldgeber gerissen. Erzürnt verschaffte sich Gault Zugang zu Fagans Wohnung und schlug den Frechling nieder. Daraus, dass er möglicherweise fest zugeschlagen hat, machte er keinen Hehl, als ihn die Polizei festnahm.

Die Justiz hat auf Ina Kell als Hauptzeugin gesetzt, doch plötzlich ist diese aus New York verschwunden. Der Prozess steht an, und sollte Ina nicht aussagen, wird man Gault womöglich freisprechen - kein Wunder, dass der zuständige Staatsanwalt der Polizei im Nacken sitzt! Sie soll die flüchtige Zeugin finden und vor Gericht bringen.

Inspektor Oscar Piper von der Mordkommission hofft auf die Hilfe einer alten Freundin. Schon mehrfach hat ihn die Lehrerin Hildegarde Withers als Amateurdetektivin unterstützt. Zwar ist sie inzwischen pensioniert und nach Kalifornien verzogen, doch sie hält sich gerade in New York auf und lässt sich von Piper ‚rekrutieren‘. Wie üblich geht sie sehr eigene Wege und meldet sich plötzlich aus Mexiko. Was den Inspektor ebenso wie den Staatsanwalt stärker beunruhigt, ist ihre Theorie, dass man mit Gault den falschen Mörder angeklagt hat ...

Aufs falsche Pferd gesetzt

Wieder einmal lässt ein Amateur die Profis dumm aussehen: Im Kriminalroman ist dies eher die Regel als die Ausnahme, denn nach dem Willen entsprechend motivierter Autoren sowie zur Freude ähnlich denkender Leser sind Justiz und Polizei Horte eines allzu eingeschliffenen Denkens, das der Erfahrung den Vorrang vor jener Erkenntnis gibt, die sich erst dem unkonventionellen Ermittler zu erkennen gibt. Autor Stuart Palmer (1905-1968) macht es den bestallten Routiniers trügerisch leicht und beschreibt ein glasklares Mord-Szenario: Winston Gault muss der Mörder sein! Nicht nur die Indizien belegen es. Eine Zeugin hat ihn den Tatort direkt nach vollendetem Totschlag verlassen sehen. Der Täter selbst beruft sich auf Volltrunkenheit, kann und will aber nicht ausschließen, zum Mörder geworden zu sein.

Dennoch steckt die Justiz in Schwierigkeiten. Das US-Rechtssystem weist Lücken auf, die seit jeher Nischen für Kriminalromane lassen, in denen Verfasser einträglich nisten. In unserem Fall war sich der Staatsanwalt seiner Sache ein wenig zu sicher. Sein Auftritt vor Gericht fußt auf der Aussage der Zeugin Ina Kell - und die ist auf und davon.

Das „Warum?“ steht für den Staatsanwalt nicht im Vordergrund. Ina Kell muss her, und die Polizei soll dies ermöglichen. Man steht unter Zeitdruck, denn der Prozess naht. Die Verteidigung wetzt die Messer, der Gerechtigkeit droht eine Niederlage; so muss man die Situation offiziell deuten, obwohl Palmer deutlich macht, dass primär die Angst des Staatsanwalts vor einer öffentlichen Blamage = einer Verhinderung seiner Wiederwahl den Polizeiapparat in Gang setzt.

Strohhalm mit Dickschädel

Unsere Geschichte beginnt unter der Prämisse, dass Gault schuldig ist, während die Handlung die Suche nach der dies bestätigenden Zeugin beschreibt. Dass Palmer den Haupt- und einzigen Verdächtigen als Widerling charakterisiert, schürt die Sorge um die gerechte Sühne einer Bluttat.

Nun betritt Hildegarde Withers die Szene. Bereits elfmal hat sie Inspektor Piper ‚beratend‘ zur Seite gestanden. Tatsächlich war sie es, die den Nebel falscher Verdachtsmomente beiseite wischte, woran sich in diesem zwölften Band der Serie nicht ändert. Die Wiederkehr des nur vorsichtig variierten ‚Schreckens‘ ist die oberste Pflicht jedes Autors, der eine Reihe möglichst erfolgreich in die Länge ziehen möchte.

In diesem Rahmen sorgt Palmer (scheinbar) für Aktualität, indem er die Heldin nach längerer Abwesenheit an jenen Ort zurückkehren lässt, wo sie vor dem Zweiten Weltkrieg ihre großen Erfolge gefeiert hat. Offenbar ist auch Miss Withers älter und ‚ruhiger‘ geworden, doch dem straft der Verfasser natürlich Lügen. Die Detektivin leckt erstaunlich schnell wieder Blut, sodass sich der Plot nach dem üblichen Schema entwickeln kann.

Willkommen in (einer Art von) Mexiko!

Das bedeutet vor allem kriminalistische Eigenmächtigkeiten einer Detektivin, die sich als nette, ältere, sehr konventionelle Dame tarnt. Darunter brodelt ein Geist, der die Jagd auf Übeltäter als Ventil nutzt und sich jene Freiheiten nimmt, die einer alleinstehenden Frau fortgeschrittenen Alters von der Gesellschaft nicht zugestanden werden.

Hildegarde Withers lässt sich weder von der Staatsanwaltschaft noch von der Polizei instrumentalisieren. Die Freundschaft zu Oscar Piper stellt dies mehrfach auf die Probe, denn auch ihn schont die Detektivin nicht. Mit der üblichen Wucht taucht sie jenseits der US-Grenze in Mexiko auf. Nach den Konventionen (bzw. Klischees) der frühen 1950er Jahre ist dies ein Land jenseits von Gesetz und Moral. Das Klima ist heiß, was sich lockernd auf sonst eherne Sitten auswirkt. Hierher reisen die US-Gringos, wenn sie ohne Aufsicht auf die Pauke hauen wollen.

Nach Mexiko zieht es einen außerdem, will man sich vor der US-Justiz verbergen (oder eine Scheidung halbwegs legal realisieren). Wer sich in diesen Süden wagt, gerät unwissend wie Miss Withers in einen lokalen Sumpf aus Korruption, Betrug und Frivolität. Für ein paar Dollars ist der ‚typische‘ Mexikaner für jede Schandtat bereit - Element eines ‚lustig‘ gemeinten Klischee-Bündels, das bis heute seine traurige Existenz nicht wirklich ausgehaucht hat.

Komödie des seriellen Versagens

Die Hildegarde-Withers-Romane besitzen einen humorvollen Unterton. Der steigerte sich, nachdem Hollywood ab 1932 begann, sie zu verfilmen. Bis 1937 entstanden insgesamt sechs kostengünstig gedrehte B-Movies, in denen sich Spannung und Witz (aus heutiger Sicht recht grob) mischten. Palmer behielt dies ebenso bei wie eine ‚filmische‘ Gestaltung seiner Romane: Inzwischen war er selbst als Drehbuchautor in Hollywood gelandet.

Dies sorgt hier für einen Mittelteil, in dem die Handlung ungeachtet stetiger Turbulenzen auf der Stelle tritt. Stattdessen erleben Miss Withers - dem der als Handlanger und staunend-ungläubiger ‚Watson‘ unentbehrliche Piper selbstverständlich in den Süden folgt – diverse, durch Running Gags gekrönte Verwirrungen, die man aus Boulevard-Komödien kennt. Ständig stolpern bekannte, merkwürdige oder verdächtige Personen in Hildegardes Hotelzimmer, muss sie sich mit treuherzig-kriminellen mexikanischen Nebenerwerbsgaunern auseinandersetzen oder versuchen, ihren irrtümlich ins Ausland mitgenommenen und auch sonst für allerlei Durcheinander zuständigen Pudel zurück in die USA zu schmuggeln.

Irgendwann neigt sich dieser Roman seinem Ende zu, und Autor Palmer erinnert sich daran, dass noch ein Fall aufzuklären ist. Dies geschieht vorschrifts- bzw. genremäßig, weshalb sich die/der Täter/in aus dem Kreis der auftretenden Figuren rekrutiert, obwohl sie/er mit der Bluttat nichts zu tun hatte; scheinbar, denn nun naht Miss Withers’ große Stunde. Vor versammelter Runde erläutert sie den gebannt lauschenden Verdächtigen, Polizisten, Juristen und natürlich uns Lesern, was tatsächlich geschehen ist. Die Demaskierung ist eine Überraschung, doch die Begründung will zumindest aus heutiger Sicht nicht recht zünden. Hier macht sich das Alter dieses Romans jenseits des Nostalgiefaktors bemerkbar. Wenigstens ist Miss Withers anschließend wieder ganz in ihrer Ermittlerrolle, die sie noch in vier weiteren Bänden der Serie übernahm.

Fazit

Band 12 der Hildegarde-Withers-Serie bietet eine Mischung aus Krimi und klamaukstarker Komödie. Im Mittelteil sorgt dies für Längen, während die Routine des Verfassers im letzten Drittel und vor allem im Finale für jene Spannung sorgt, die auch von einem ‚modernen‘ Rätsel-Krimi erwartet wird.

Im Keime erstickt

Stuart Palmer, Signum

Im Keime erstickt

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