Und dann verschwinde ich in die Nacht

  • Kampa
  • Erschienen: April 2024
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Michael Drewniok
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonJun 2024

Vom Fortschritt eingeholter Täter.

Vier Namen, ein Täter

1972 beginnt im Umland der kalifornischen Hauptstadt Sacramento ein mysteriöser Einbrecher sein Unwesen zu treiben. Er dringt in Häuser ein, stiehlt dort eher wertlosen Tand, den er womöglich an einem anderen Ort zurücklässt. Dem Täter geht es um den Reiz des Verbotenen, um Macht und die Angst der Bewohner, die manchmal sogar im Haus sind, wenn der unbekannte Mann - immerhin sein Geschlecht steht fest - dort nach Trophäen stöbert.

Bald steigert sich die Intensität der Taten, der Gewaltpegel nimmt zu, Haustiere werden brutal totgeschlagen. Der Einbrecher nutzt offenbar die Dächer der flachen, in den Vorstadtsiedlungen dicht beieinanderstehenden Gebäude, um unerkannt zu kommen und zu gehen. Die Polizei ist überfordert, der Täter organisiert und sorgfältig: Indizien lässt der „Visalia Ransacker“ nicht zurück. Dann schlägt er plötzlich nicht mehr zu.

Neue Verbrecher sorgen für Schlagzeilen - Unholde wie der „East Area Rapist“, der „Original Night Stalker“ oder der „Diamond Knot Killer“ überfallen Frauen; erst auf den Straßen, dann auch nachts in ihren Häusern. Es ist egal, ob sie in männlicher Begleitung sind. 1976 ereignet sich ein erster Mord. Binnen kurzer Zeit gibt es weitere Opfer - und einige Ermittler beginnen zu ahnen, dass es sich bei den oben genannten Verbrechern um ein und denselben Täter handelt. Er geht unter seinem neuen Spitznamen als „Golden State Killer“ in die Kriminalgeschichte ein.

Ab 1986 beginnt der Siegeszug der Identifizierung durch DNA. Ein Blutstropfen oder einige Hautschuppen am Schauplatz einer Gewalttat genügen, um den Täter anhand seiner Gene zu entlarven. Prompt verschwindet der „Golden State Killer“ nach 13 Morden, mehr als 50 Vergewaltigungen und über 120 Einbrüchen von der Bildfläche, was die Ermittler in ihrer Vermutung bestärkt, es mit einem ehemaligen Polizisten zu tun zu haben.

Die Fahndung wird fortgesetzt, doch Generationen von Gesetzeshütern verzweifeln an der Herausforderung. Erst 2017 kann man Joseph DiAngelo, einen inzwischen 72-jährigen Elektriker im Ruhestand, dank einer buchstäblich US-weiten Überprüfung von DNA-Profilen als Täter ermitteln. 2018 wird der „Golden State Killer“ verhaftet. Die mühsam zusammengetragenen Beweise können selbst dessen einfallsreiche Verteidiger nicht entkräften. Seit 2020 sitzt DiAngelo im Gefängnis seine 26 lebenslänglichen Haftstrafen ab ...

Die goldene Ära des Serienmords

Joseph DiAngelo ist die perfekte Verkörperung einer Ära, in der die Kriminalistik in den USA dem modernen Verbrechen hinterherhinkte. Vor der Erfindung des Internets blieben Ermittlungen auf die unmittelbaren Tatorte beschränkt. Telefon und Telefax gab es zwar, aber man tauschte sich nicht aus; es existierte keine Polizeikultur, die eine überregionale Zusammenarbeit gefördert hätte. So war es möglich, dass es für ein und denselben Serientäter vier Akten, vier Identitäten und vier Spitznamen gab.

Zum überfälligen Umschwung kam es erst, als das Verbrechen allzu offensichtlich Wege einschlug, auf denen ihm die Ermittler nicht mehr folgen konnten. Die Fahndungstechniken wurden modernisiert, Kommunikation und Querverweise zum A und O einer systematischen Verfolgung. Die Evolution der Spurensicherung Auswertung gipfelte (vorläufig) in jener DNA-Analyse, die auch den „Golden State Killer“ vor Gericht brachte. DiAngelo lebte ein friedliches, angstfreies Rentnerleben und fiel aus allen Wolken, als man ihn nach über 40 Jahren doch erwischte.

Journalist William Thorp war fasziniert von dieser Geschichte, die man als Roman oder Film erzählt wohl nicht für glaubwürdig hielte. Selbst die daraus resultierende, nur rudimentäre Darstellung zeitgenössischer Polizeiarbeit legt plausibel offen, wieso DiAngelo mehr als ein Jahrzehnt Kapitalverbrechen begehen und anschließend ein Leben als mehrfacher Vater und geliebter Großvater verbringen konnte. Hinzu kam die diabolische Selbstdisziplin eines Gewalttäters, der genau dann seine Aktivitäten einstellte, als eine Ermittlungstechnik aufkam, deren Gefährlichkeit er sogleich erkannte.

Explosion des Verbrechens im Kurzdurchlauf

Die kriminelle ‚Laufbahn‘ des „Golden State Killers“ bietet mehr als genug Stoff für ein „True-Crime“-Sachbuch. DiAngelos Taten-Palette ist traurig breit und umfasst ganz unterschiedliche Gewalttaten, die jenseits der Spannung, die auch im Rahmen einer auf Tatsachen basierenden Darstellung durchaus gestattet ist, eine Bestandsaufnahme der Polizeiarbeit im Laufe mehrerer Jahrzehnte bietet.

Erstaunlicherweise bzw. leider legt Autor William Thorp eine Dokumentation vor, die gerade einmal 140 Seiten umfasst. Dies ginge in Ordnung, würde er sich konzentriert auf das Wesentliche beschränken. Stattdessen geizt Thorp einerseits mit Informationen, während er andererseits die realen Beteiligten und Zeugen dieses Kriminaldramas wie die Figuren einer TV-Kriminalserie zeichnet und vor allem mit Klischees arbeitet. Wie in einer schlechten US-Seifenoper geht er scheinbar tiefsinnig darauf ein, wie sich die vergebliche Jagd auf den „Golden State Killer“ auf das Privatleben diverser Ermittler auswirkt. Dabei schreckt er vor Plump-Effekten nicht zurück und schwelgt in der Verklärung engagierter, gottesfürchtiger, familiengeprägter Männer und Frauen, die im Namen der Gerechtigkeit durch die Hölle gehen; eine peinliche ‚Tradition‘, die Thorp womöglich aus jenen „True-Crime“-Miniserien übernommen hat, die für diverse Streaming-Sender quasi am Fließband produziert werden.

Thorp will nach eigener Auskunft mit Zeitzeugen und hier mit diversen Ermittlern gesprochen sowie alte und jüngere Polizeiberichte gewälzt haben. Seine Biografie zu Rate gezogener Sekundärliteratur umfasst nur wenige Titel, weshalb sich die Frage stellt, wie intensiv sich Thorp wirklich mit dem Thema beschäftigt hat. Wo andere „True-Crime“-Autoren es mit der Detailfreude übertreiben, sorgt er für eine ebenso kontraproduktive Info-Dürre. So bleibt u. a. offen, wer Joseph DiAngelo eigentlich war bzw. ist. Inzwischen sollten Informationen bekannt sein, die mehr als das Stereotyp des verurteilten Unholds bieten, auf das ihn Thorp reduziert. Es ist ein absolutes No-Go, wenn realer Schrecken gar zu verkürzt dargestellt und scheindramatisch simplifiziert wird. In dieses negative Bild fügt sich auch die Abwesenheit von Bildern, die im Rahmen einer ‚wahren Geschichte‘ wichtig sind. Hier hat man offensichtlich die Kosten für eine Abdrucklizenz gescheut.

Fazit

Die buchstäblich langwierige Jagd auf einen längst untergetauchten Serienkiller wird hier in recht dürren Worten nacherzählt. Die Falldarstellung ist darüber hinaus zu komprimiert bzw. knapp, die beschriebenen Ermittler, Tatopfer, Zeugen usw. bleiben auf Stereotypen beschränkt: ein dürftiger „True-Crime“-Report.

Und dann verschwinde ich in die Nacht

William Thorp, Kampa

Und dann verschwinde ich in die Nacht

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