In den Farben des Dunkels
- Piper
- Erschienen: Juni 2024
- 9
Wo ist Grace?
Als der 13-jährige Patch eines Tages seine Mitschülerin Misty Meyer in einem nahegelegenen Wald mit einem fremden Mann sieht, wird er das Leben des Mädchens retten und selbst in Gefangenschaft geraten.
1975 - 2001
Der unglaublich dramatische Beginn fesselt sofort an die Seiten. Christ Whitaker baut eine dichte Spannung auf und lässt uns erst nach 100 Seiten ein wenig aufatmen. Über 300 Tage wurde Patch in völliger Dunkelheit festgehalten, bevor er befreit wird. Ganz zur Erleichterung seiner einzigen Freundin Saint. Sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben, ihren Freund wieder lebend zu Gesicht zu bekommen. Doch Patch hat sich verändert. Die Ereignisse haben ihm zugesetzt. Vor allem kann er das geheimnisvolle Mädchen Grace nicht aus dem Kopf bekommen. Sie war in seiner Gefangenschaft immer wieder bei ihm, hat ihm durch das Dunkel geholfen. Doch niemand glaubt ihm. Hat Grace wirklich existiert? Patch ist davon überzeugt und wird eine lange Suche beginnen - über Jahre und über Ländergrenzen hinweg. Und wir werden hineingezogen in unterschiedliche Lebenswege, die mit der Entführung im Jahr 1975 verbunden sind und die ebenso tragische und schmerzhafte, wie zarte und gefühlvolle Momente bereithalten werden.
„Ich wollte, dass die Leserinnen und Leser mit den Figuren mitwachsen, mit Ihnen auf eine Reise gehen, ihre Siege und Niederlagen miterleben.“
Anfangs präsentiert sich „In den Farben des Dunkels“ noch als atmosphärischer Thriller. Die Suche nach einem Serientäter, der schon mehrere Opfer auf dem Gewissen hat, wird auch weiterhin die entscheidende Rahmenhandlung bleiben. Doch liefert diese vor allem den Nährboden, für tiefere Veränderungen, die die Figuren fortan durchlaufen, den Einfluss, den die Ereignisse auf ihr Leben und eine kleine Stadt nehmen. Es ist immerhin eine lange Zeit, die wir hier nicht nur mit Patch, Saint, Misty, sondern auch mit deren Eltern, Polizeichef Nix, Dr. Tooms und weiteren Bewohnern des Ortes Monta Clare, im Schatten der St. Francois Mountains gelegen, durchleben. Wir freuen uns und leiden mit, geraten immer wieder in Zweifel, machen uns Gedanken, was in der Gefangenschaft mit Patch tatsächlich geschehen sein mag.
Chris Whitaker gelingt es wunderbar, die verschiedenen Ebenen der Geschichte zu verweben, seine Figuren lebensnah und facettenreich zu gestalten. Er modelliert immer wieder fein die Figurenkonstellation. Handlungsfäden lösen sich kurz, werden anschließend wieder zusammengeführt. Und dann wie aus heiterem Himmel, gibt es eine überraschende Wendung, bricht ein neuer Hinweis in den Alltag von Saint und Patch ein. Und schon sind auch wir wieder zurück im Entführungsfall und auf Tätersuche.
Ein wenig schimmert hier für mich durchaus Stephen King durch, mit seinem feinen Gespür gerade auch für junge Charaktere. Patch ist mit nur einem Auge aufgewachsen und trägt seitdem immer eine Augenklappe. Eine besondere Freundschaft verbindet ihn mit Saint, die versucht mit viel aufopfernder Initiative Patch zu helfen. Entsprechend deprimiert sind auch wir über die abweisende Distanz, die Patch ihr gegenüber aufbaut. Der skurrile Galerist Sammy hingegen wird Patchs Leben eine deutliche Wendung geben, Kunst nimmt dann einen großen Raum ein und schafft für Patch neue Möglichkeiten der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Wir erleben einen herausfordernden Reifeprozess vom Mädchen zur Frau, vom Jungen zum Mann, verbunden in der Suche nach Grace. Und auf dem Weg verlieren sich die Wege, erschüttern neue Schicksale die Gegenwart. Und es gibt ein unerwartetes Ende, das im Vergleich zur vorherigen behutsamen Dramaturgie beinahe zu temporeich und etwas konstruiert erzählt wird. Aber sichtlich berührt verlasse ich Monta Clare und seine Bewohner.
Fazit
„In den Farben des Dunkels“ hat eine erstaunliche emotionale Tiefe. Wir wandeln zwischen Schmerz und Liebe, Freundschaft und Familie, Enttäuschung und Glück, Schicksal und Tod. Chris Whitakers neuer Roman ist in jeder Hinsicht vielfältig beeindruckend. Düsterer Thriller, spannender Krimi, aufwühlendes Drama, poetische Liebesgeschichte und packender Gesellschaftsroman, alles hervorragend ausbalanciert zu einem mitreißenden Leseerlebnis, düster und melancholisch dabei dennoch voller Wärme und Hoffnung.
Chris Whitaker, Piper
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