Das Zimmer der roten Witwe

  • Apex-Verlag
  • Erschienen: März 2020
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Das Zimmer der roten Witwe
Das Zimmer der roten Witwe
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2024

Uralter Fluch deckt aktuellen Mörder.

Mitten in London steht der Familiensitz der Familie Brixham. In dem Bauwerk von 1751 gibt es einen bestimmten Raum - das „Zimmer der roten Witwe“ -, in dem jede Frau und jeder Mann stirbt, der dort die Nacht verbringen will. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es immer wieder mutige (oder dumme) Zeitgenossen, die das Geheimnis lüften wollten. Alle kamen sie um, weshalb der alte Lord Mantling, Oberhaupt der Brixhams, den Raum versiegeln ließ.

Sein Sohn Alan, der neue Lord, fühlt sich herausgefordert. Er lädt einige alte Freunde zu einer Gesellschaft ein, an der auch die im Haus lebenden Familienmitglieder teilnehmen. Man zieht Karten; der ‚Gewinner‘ lässt sich im besagten Zimmer einschließen. Ralph Bender siegt mit dem Pik-As. Man unterhält sich mit ihm durch die Tür. Als er plötzlich schweigt, schaut man nach: Bender ist tot - und das schon recht lange! Mit wem hat man also die ganze Zeit gesprochen?

Unter den Gästen ist Sir Henry Merrivale, der berühmte Privatermittler. Gemeinsam mit Oberinspektor Masters will er herausfinden, was geschehen ist. Das „Zimmer der roten Witwe“ besitzt keine geheimen Zugänge. Niemand konnte dort Bender umbringen und verschwinden. Erste Befragungen stellen allerdings klar, dass jede/r Brixham Gründe für den Mord gehabt hätte. Doch wer konnte die Tat begehen - und wie? Merrivale glaubt nicht an Geister, sondern an sein Fahndungsgeschick. Allerdings ist auch er überrumpelt, als eine weitere Leiche im Spukzimmer liegt ...

Der Reiz des Unmöglichen

„John Dickson Carr“ und der „Mord im von innen verschlossenen Raum“: Selten finden eine Person und ein Plot so harmonisch zusammen wie in diesem Fall. Nie hat Autor Carr in seiner langen Karriere seine Faszination angesichts eines Rätsels verloren: In einem von außen nicht zugänglichen Raum wurde jemand umgebracht. Es gibt keine Geheimgänge, Falltüren oder Deckenluken, und nur das Opfer war zum Zeitpunkt des Todes im besagten Raum. Wie konnte die Tat vollbracht werden?

Immer wieder hat sich Carr an dieser Frage förmlich aufgerieben. In seiner großen Zeit - den 1930er und 40er Jahren - hatte er das Mysterium einfallsreich im Griff. Sein Talent als Geschichtenerzähler war so groß, dass er sich nach dem Willen seines Verlegers ein Pseudonym zulegen musste, um den Krimi-Markt nicht im allzu deutlichen Alleingang mit Carr-Werken zu fluten. „Das Zimmer der roten Witwe“ hat ein gewisser „Carter Dickson“ geschrieben.

Man kann Carr für die Flut seiner Einfälle nur bewundern! 1935 war er bereits auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Dieser Roman ist Band 3 einer Reihe, in welcher der Autor verzwickte Fälle durch den ebenso genialen wie verschrobenen Detektiv Sir Henry Merrivale lösen ließ. Er trat zwischen 1934 und 1953 in 22 Romanen auf. Merrivale ist kein klassischer Amateur, sondern verfügt über eine kriminalistische Ausbildung und viel Erfahrung als Verbrecherjäger. Viele Jahre hat er den englischen Geheimdienst quasi geleitet, und auch im ‚Ruhestand‘ ist er ‚beratend‘ tätig. Weil dies seinen Ermittlerdrang nicht stillen kann, lässt sich Merrivale stets gern in offene Kriminalfälle hineinziehen. Sie müssen nur möglichst seltsam sein.

Der Fluch, der Wahnsinn & das böse Genie

Carrs zweites Steckenpferd war das Unheimliche. Er liebte es, seine Romane förmlich in Schauerlichkeiten zu tränken. Auch das Zimmer der roten Witwe hat eine Vorgeschichte, die der Verfasser förmlich zelebriert. Er schlägt den Bogen von der Gegenwart (des Jahres 1935) zurück zu einer Vergangenheit, die er im Paris der Französischen Revolution verortet, wo unter der Guillotine die Köpfe des Adels in Serie über das schmutzige Straßenpflaster rollen. Faktisch hat dies keine Relevanz für die aktuellen Morde, aber es sorgt für eine schaurig-spukige Grundstimmung: Geht es in dem verfluchten Zimmer etwa um?

Natürlich nicht, wobei man diese Auskunft nicht als Spoiler werten darf. Carr fühlte sich dem „fair play“ verpflichtet, weshalb einem seriösen Krimi-Schriftsteller nicht nur die weiter oben genannten Geheimgänge etc., sondern auch und vor allem das Wirken von Gespenstern verboten war: Die Grenzen der Realität mussten gewahrt bleiben, übernatürliche Auswege aus einem gar zu verzwickten Mordrätsel waren verpönt.

Carr hielt sich vorbildlich daran; dies auch deshalb, weil er die Herausforderung liebte. In diesen Jahren konnte er sich gestatten, nicht nur mögliches Mordszenario für das Zimmer der roten Witwe zu entwerfen. Stattdessen legt er mehrfach falsche Spuren, lässt einen Papagei erwürgen und einem Hund die Kehle durchschneiden, munkelt über den erblichen Wahnsinn der Brixhams, löst das Rätsel scheinbar gleich mehrfach, um die völlig plausiblen Erläuterungen übermütig über den Haufen zu werfen.

Das System der unterhaltsamen Täuschung

Als Täuscher im Auftrag seiner Leser behält Carr die Oberhand. Alle Krimi-Autoren wollen ihr Publikum verwirren, um erst im Finale für erlösende Aufklärung zu sorgen. Carr treibt mehr als den üblichen Aufwand. Dies macht es erforderlich, dass der dramatischen Demaskierung des Mörders noch viele Seiten folgen, auf denen Merrivale seinen Zuhörern = uns Lesern haarklein erklären muss, was eigentlich geschehen ist.

Carrs Kunst liegt in der Fähigkeit, eine Ereigniskette schlüssig zu beschreiben, um sie anschließend für irrelevant zu erklären. Irgendwann gelingt es Merrivale, sich von den ‚Tatsachen‘ zu lösen. Er tritt einen Schritt zurück und verschafft sich einen Überblick. Dabei erkennt er, dass sich die kausale Kette in Einzelteile zerlegen lässt, die er zu einem neuen Gesamtbild zusammenfügen kann. Plötzlich zeigen sich bisher unklare Vorgänge in einem völlig neuen Licht.

Bis es soweit ist, sorgt Carr für ordentlichen Druck im Kessel. Der Kreis der Verdächtigen ist begrenzt; auch dies typisch für den klassischen Rätsel-Krimi. Unter einem Dach sind Opfer, Täter und Ermittler zusammen, wobei Carr sich große Mühe gibt, verräterische bzw. falsche oder falsch interpretierte Indizien zu streuen. Irgendwann wirkt jede/r Anwesende tatverdächtig. Alle hüten sie dunkle Geheimnisse oder falsche Identitäten. Das endlich enthüllte Tatmotiv ist überaus komplex; das sollte es auch sein, um den Aufwand zu erklären, der in einen eigentlich bizarren Mordplan investiert wird. Von hinten durch die Brust ins Auge: Gerade darin liegt die Genialität einer Untat, die nur scheitert, weil Merrivale in der Lage ist, ebenso konventionsfrei zu denken wie der/die Täter/in.

Fazit

Mit immer neuen ‚Lösungen‘ wartet Autor Carr auf, um einen ‚unmöglichen‘ Mord offenzulegen. Die tatsächliche Erklärung stellt sämtliche Ablenkungsmanöver in den Schatten und beweist in diesem klassischen „Whodunit“ - dem dritten Roman der Henry-Merrivale-Serie - einmal mehr das Talent des Verfassers, seine Leser trickreich und unterhaltsam aufs Krimi-Glatteis zu führen.

Das Zimmer der roten Witwe

John Dickson Carr, Apex-Verlag

Das Zimmer der roten Witwe

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