Anruf bei Miss Forrester
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1958
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Wettlauf mit dem Henker.
Längst lebt Charles Hilary von seiner Gattin Louise getrennt. Liebe hat sich vor allem auf ihrer Seite in blanken Hass verwandelt. Die Situation spitzt sich zu, seit Charles sich in andere Frau verliebt hat. Er drängt auf klare Verhältnisse und die Scheidung, doch Louise verweigert die Einwilligung, was in dieser Ära kurz nach dem Zweiten Weltkrieg das Verhältnis zwischen Charles und Kathryn Forrester juristisch und moralisch ins Unrecht setzt.
Genau dies ist Louises Absicht. Aus der Tatsache, dass sie es selbst mit der Treue nicht genau nimmt, macht sie Charles gegenüber keinen Hehl. Doch sie weiß die entsprechenden Spuren gut zu verwischen, sodass im Rahmen eines Prozesses wohl nur Charles als Ehebrecher dastünde. Da er Kathryn ein Dasein als sozial ausgegrenzte ‚Geliebte‘ nicht zumuten will, versucht Charles Louise zur Scheidung zu überreden - zwecklos.
Verzweifelt, ratlos und vor allem ohne gesehen zu werden, irrt er durch die Stadt. Letzteres wird ihm zum Verhängnis, als man Louise erdrosselt in ihrer Wohnung findet. Alle Indizien weisen auf Charles als Täter hin. Eine Zeugin ist fest davon überzeugt, dass er zur Tatzeit aus der Wohnung kam. Weitere Verdächtige gibt es nicht. Also wird Charles vor Gericht gestellt - und zum Tode verurteilt.
Ein Zufall ermöglicht ihm die Flucht aus dem Gefängnis. Die von seiner Unschuld überzeugte Kathryn hilft ihm, sich auf einer Insel im Fluss Medway zu verbergen, obwohl sie unter scharfer polizeilicher Überwachung steht. Das Paar plant eine Flucht per Segelboot über den nahen Ärmelkanal an die französische Küste. In Europa hoffen sie unterzutauchen und von dort aus nach Belegen für Charles’ Unschuld zu fahnden.
Immer wieder droht die misstrauische Polizei diesen Plan zu durchkreuzen. Als das Paar sich endlich davonmachen kann, schlägt das Wetter um. Sturm kommt auf, das Boot ist ungeeignet für schwere See, und weder Charles noch Kathryn sind erfahrene Segler ...
Pech kann zum Tode führen
Streifzüge durch die Geschichte des Kriminalromans sind interessant. Unbekannte Namen und Titel locken, und als Genrefan ist man ohnehin stets auf der Suche nach Lesestoff; dies erst recht, wenn mit dem Alter die Ansprüche steigen bzw. Vorlieben sich festigen (oder verkrusten - die Grenze ist trügerisch fließend). Hinter dem Horizont lockt das Unbekannte. Dies gilt auch für die (Unterhaltungs-) Lektüre.
1958 mag für die Jüngeren im Zeitalter der Dinosaurier liegen. Der Kriminalroman hat sich seither formal wie inhaltlich verändert. Dass „Anruf von Miss Forrester“ der Vergangenheit = der Gegenwart von 1953 - in diesem Jahr erschien die Originalausgabe - verhaftet ist, wird bereits durch die Dringlichkeit eines Problems deutlich, das heutzutage so nicht mehr existiert: Die Ehe gilt als Institution, die auch bei eindeutiger Unverträglichkeit kaum zu scheiden ist. Nicht nur die Kirche, sondern auch das Gesetz baut Hürden auf, die so hoch sind, dass Mord durchaus eine ‚Lösung‘ sein kann. Die kriminelle Realität hat dies so oft unter Beweis gestellt, obwohl der Preis hoch ist: Charles Hilary droht der Galgen. (In England wurden die letzten Mörder 1964 gehenkt.)
Hinzu kommt die Tücke des Objekts, auch Pech genannt. Autor Andrew Garve setzt geschickt auf diesen Faktor. Vor allem die Abwesenheit von Gründen, die für den Angeklagten sprechen, brechen diesem beinahe das Genick. Hinzu kommt der Zufall, der erst im Finale seine dramatische Aufklärung findet. Wie Alfred Hitchcock bedient Garve die allgemeine Furcht vor einem Gesetz, das wie eine Mühle arbeiten und ihre ‚Opfer‘ zermalmen kann. Irrtümer sind menschlich, doch wenn der Henker die Falltür aufklappen lässt, bleibt für Korrekturen kein Spielraum mehr.
Unschuld im Albtraum
Charles Hilary ist der überforderte Jedermann. Er gerät in eine Situation, die ihn zu verschlingen droht. Garve schildert ihn als etwas drögen bzw. weltfremden Wissenschaftler, der zu seinem Unglück an eine Frau geriet, die ihn für ihre gescheiterten Lebensträume verantwortlich macht und ihn leiden sehen will. Plötzlich entwickelt Hilary eine Energie, die ihm bisher fremd war. Zumindest wir Leser wissen, dass er seine Gattin nicht umgebracht hat, und drücken ihm die Daumen!
Die Handlung rankt sich nur marginal um die Aufklärung des Verbrechens. Im Mittelpunkt steht Hilarys Flucht. Dass sich Kathryn Forrester bedingungslos auf seine Seite schlägt, ist mehr als ein Glücksfall: Ohne ihre tatkräftige Hilfe wäre diese Geschichte rasch zu Ende! Immer wieder gerät Charles in Situationen, in denen er ohne Kathryns Einfallsreichtum verloren wäre. Lange vor der Erfindung der „starken Frau“ gelingt dem Verfasser etwas viel Besseres: Diese Frau denkt und handelt, ohne daraus ein feministisches Statement zu machen. Charles vertraut Kathryn und verlässt sich auf sie. Dass sie sich durch ihre Hilfe strafbar macht, wird thematisiert, spielt aber für sie keine Rolle.
England ist eine Insel, und die Polizei weiß, welche Wege Straftäter einschlagen werden, um sich dem Gesetz zu entziehen. Charles und Kathryn sind keine Berufsverbrecher. Sie verfügen über kein kriminelles Sonderwissen und kennen die Lücken nicht, die sich dennoch finden lassen. Also müssen sie sich etwas einfallen lassen, um der trügerisch schwerfälligen, aber allgegenwärtigen Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Dabei kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, die der Handlung eine dramatische Wendung geben.
Von einer Stunde zur nächsten planen
Bei nüchterner Betrachtung haben Charles und Kathryn keine Chance. Selbst wenn ihr Plan einer Flucht nach Frankreich aufginge, wären sie dort beinahe ebenso angreifbar wie in England. Zwar gibt es noch keine digital-direkte Kommunikation, doch die zeitgenössischen Überwachungs- und Suchmethoden sind langsam, aber nicht nutzlos. Allerdings geht es Garve gar nicht um die Flucht. Die aus ihrer Unschuld resultierende Energie, mit der sich der unschuldige Charles und die mutige Kathryn in immer neuen Konfliktsituationen behaupten, wird zum tragenden Element des Spannungsaufbaus und gipfelt in der Schilderung eines wahrlich dramatischen Segeltörns durch Sturm und Wogen.
Schon vorher dreht sich alles um die Flucht mit Hindernissen. Charles versteckt sich auf einer kleinen Insel. Polizisten durchsuchen sie; wie wird er sich ihnen entziehen? Auch Kathryn steht unter Aufsicht. Nicht nur die Polizei, sondern auch die Vertreter der Presse belauern sie. Mehrfach müssen ohnehin brüchige Pläne kurzfristig verworfen und neu geschmiedet werden. Überall warten wachsam brave Bürger, die nie auf die Idee kommen, dass sie dabei helfen, einen (unschuldigen) Mann an den Galgen zu bringen: So funktioniert Gerechtigkeit aus ihrer Sicht nicht!
Die Polizei lässt im Finale Ansätze von Gewissensbissen erkennen. Die Diensterfahrung gab vor, dass Hilary schuldig ist. Diesem Sog konnten die Beamten sich nicht entziehen. Wieder ist es Kathryn, die (natürlich in letzter Sekunde) erkennt, wie sie Charles’ wackliges Alibi glaubhaft machen kann. Sie durchbricht die Routine, woraufhin die Justiz-Maschine endlich in die richtige Spur kommt. Nun schildert Garvin, wie der wahre Täter entlarvt wird - nicht mehr dramatisierend, sondern knapp und plausibel. So rundet er dieses Werk so ab, wie es den wahren Profi auszeichnet: Paul Winterton (1908-2001), Journalist und Schriftsteller, der zwischen 1938 und 1978 so eifrig Krimis veröffentlichte, dass er dies unter Pseudonymen wie „Roger Bax“, „Paul Somers“ und eben „Andrew Garve“ tat, hat keine Klassiker geschrieben, aber lesenswerte Spannungslektüre hinterlassen.
„Anruf bei Miss Forrester“ im Kino
In den britischen Shepperton-Studios entstand 1962 der auf dem Roman basierende Film „Two Letter Alibi“ (dt. „Der Mörder mit den gelben Handschuhen“) - ein B-Movie, das die Geschichte von Charles Hillary (Peter Williams) und Kathy Forrester (Petra Davies) in nur 57 Minuten erzählt. Regisseur Robert Lynn stützte sich auf ein Drehbuch von Roger Marshall. Beide waren nie originelle, aber kompetente Profis, die man engagierte, wenn ein Film oder eine TV-Episode möglichst rasch und kostengünstig entstehen sollte.
Fazit
‚Nur‘ ein Routine-Krimi, der jedoch stimmungsvoll und spannend die Geschichte einer gefährlichen Flucht erzählt. Die Polizei wird zum Gegner zweier Menschen, die um ihre Unschuld wissen, diese aber erst in letzter Sekunde beweisen können: ein thematisch etwas ‚anderer‘, tempo- und wendungsreicher Thriller.
Andrew Garve, Goldmann
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