Gerechtigkeit trotz Justiz.
Detective Renée Ballard arbeitet in der „Nachtschicht“ des Los Angeles Police Departments. Aufgrund einer Intrige dienstlich aufs Abstellgleis geraten, ist sie froh, relativ ungestört ermitteln zu können. Aktuell beschäftigt sie der Tod eines Obdachlosen, der in seinem Zelt verbrannt ist. Was zunächst nach einem alkoholbedingten Unfalltod aussah, stellt sich als raffinierter Mord heraus. Die Frage ist, wieso der mittellose Mann so ‚aufwändig‘ umgebracht wurde.
Der altgediente und beinahe-pensionierte Polizist Harry Bosch ist Ballards Mentor. Er hilft ihr oft bei ihren Fällen, wobei er auf die Aufklärung ‚kalter‘ Fälle spezialisiert ist. Gerade hat Bosch einen nie gelösten Mordfall quasi geerbt: John Jack Thompson, der Mann, der ihn vor vielen Jahren angelernt hat und nun gestorben ist, hinterließ ihm ein „Mordbuch“, das die wenigen Fakten über den Tod von John Hilton beinhaltet. Dieser wurde vor fast drei Jahrzehnten in einer Toreinfahrt erschossen - eine Drogensache, urteilte die Polizei damals, aber wieso konnte Thompson nie von der Sache lassen?
Parallel hilft Bosch seinem Halbbruder, dem Anwalt Michael Haller, bei einem anderen Fall. Ein Richter wurde ermordet, doch der angeklagte Mann ist nicht der Mörder. Auch in dieser Sache will Bosch den wahren Täter finden. Zum Missfallen seiner ehemaligen Kollegen arbeitet er den Fall auf und erkennt tatsächlich gravierende Ermittlungsfehler. Hier im Alleingang und in der Mordsache Hilton gemeinsam mit Ballard geht Bosch systematisch den wenigen Spuren nach. In beiden Fällen stechen die Ermittler nicht nur in ein Wespennest, sondern stellen fest, dass es mörderische Gemeinsamkeiten gibt, die auch sie in Lebensgefahr bringen ...
Lästige Hartnäckigkeit im Dienst der Gerechtigkeit
Die Welt ist schlecht und deshalb auf die wenigen Idealisten angewiesen, die nicht von der Jagd nach Rang, Geld und (medialem) Ruhm korrumpiert sind, sondern sich offenbar toten bzw. zynisch ignorierten Werten verpflichtet fühlen. Wer außer Hieronymus „Harry“ Bosch würde sich um das Ende eines Mannes kümmern, der vor Jahrzehnten Opfer einer Auseinandersetzung zwischen Drogenhändlern wurde, und wer außer Renée Ballard um einen anderen Pechvogel, der elend als „Penner“ unter einer Plastikplane umkam?
Beide Fallakten müssten in einem der unzähligen Lagerhäuser verstauben, die der Polizei zur Verfügung stehen - unbeachtet, aber auch ohne Arbeitsaufwand zu kosten und öffentliches Aufsehen zu erregen - so, wie es die oberen Ränge favorisieren. Schnell und glatt gelöste Fälle wecken das Wohlwollen von Politik und Medien, was wiederum den eigenen Aufstieg fördert. Wer dagegen den Ermittlungsfluss staut, darf sich auf Gegenwind aus den eigenen Reihen gefasst machen.
Nicht nur der alte Hase Bosch, sondern auch die jüngere Kollegin Ballard haben sich daran gewöhnt, in einer (Polizei-) Welt zu leben, die der Gerechtigkeit nur sekundäre Bedeutung beimisst. Sie verkörpern jene Minderheit, der Autor Michael Connelly hier zum 33. Mal ein Loblied singt, ohne dabei allzu fest auf die Tränendrüse zu drücken: Sowohl Bosch als auch Ballard setzen immer wieder auf ‚Abkürzungen‘, die nicht von der Dienstvorschrift gedeckt sind, um ihrer Auffassung von Polizeiarbeit Genüge zu tun. Das flamboyante Tüpfelchen auf dem I ist Mickey Haller, der als „Lincoln-Lawyer“ und Anwalt noch tiefer bzw. skrupelloser in die Trickkiste greift (und pikanterweise Harrys Halbbruder ist).
Fühlt euch nicht zu sicher!
Vor allem Bosch, der kurz vor seinem 70ten Geburtstag steht, kann und mag sich mit der modernen, auf Effizienz und Medienwirksamkeit gebürsteten Polizei-Gegenwart nicht abfinden. Weil er weiterhin von seinem Ermittlerdrang förmlich besessen ist, hat er sich ungeachtet seines Alters nicht aufs Abstellgleis schieben lassen, obwohl er diesbezüglich inzwischen am Ende aller Möglichkeiten angekommen ist: Autor Connelly musste sich entscheiden, ob er Bosch weiterhin altern lässt oder die Zeit zumindest für ihn langsamer laufen lässt; ein Notbehelf, auf den viele Verfasser zurückgreifen (müssen), deren Krimi-Reihen länger laufen als erwartet.
Bosch ist eine Gestalt der Vergangenheit; einerseits ein Ritter, andererseits ein Ordnungshüter, der Fälle lösen will und sich dabei nicht von Vorschriften einschränken lässt, deren (Un-) Sinn er nicht akzeptiert. Immer wieder arbeitet sich Connelly in seinen Romanen an einer (US-) Justiz ab, die primär denen zur Freiheit verhilft, die sich einen teuren und mit allen (Ab-) Wassern der Gesetzgebung gewaschenen Anwalt leisten können. Absurde und realitätsferne Entscheidungen resultieren aus dieser Praxis, was Connelly andererseits nicht daran hindert, mit Mickey Haller einen besonders einfallsreichen Rechts-Beistand/Verdreher zur Hauptfigur zu machen. Daraus resultiert ein Seiltanz, den er auch in „Glutnacht“ riskiert, obwohl Haller nur in einer ‚Nebenrolle‘ auftritt. (Im „Connellyversum“ können sich die Figuren diverser Reihen begegnen. „Glutnacht“ ist deshalb Harry-Bosch-Band 22 = Renée-Ballard-Band 3 = Mickey-Haller-Band 7.) Letztlich lässt sich auch der nicht gänzlich skrupellose Haller für die Gerechtigkeit instrumentalisieren, obwohl Halbbruder Harry ihn manchmal in Vertretung des Verfassers ein wenig unter Druck setzen muss ...
Renée Ballard symbolisiert Connellys Hoffnung auf eine Gegenwart und Zukunft, die Polizei und Justiz nicht gänzlich auf den Hund kommen lässt. Die junge Frau ist in gewisser Weise leichte Beute für Harry Bosch, der darauf gewartet hat, jemand zu finden, der - oder die - in seine Fußstapfen treten wird. Mit Tochter Maddy steht außerdem eine angehende Juristin in den Startlöchern, die den Werten des Vaters folgt.
Jagdtrieb und Rechtfertigung
„Glutnacht“ folgt dem inzwischen routiniert durchgespielten Connelly-Plotschema: Im Mittelpunkt steht nicht nur ein Fall. Die Handlung springt; dieses Mal sind es drei Krimi-Rätsel, die parallel gelöst werden müssen. Wie so oft ergeben sich irgendwann ‚überraschende‘ Verbindungen zwischen bisher separaten Fällen. Hier muss man sich auf den Verfasser einlassen, der allerdings als Autor ein Vollprofi ist. Connelly kann offensichtliche Unwahrscheinlichkeiten nicht zwingend logisch, aber plausibel miteinander verknüpfen; eine Fähigkeit, die dieses Mal besonders gefragt ist.
Dass „Glutnacht“ ungeachtet der erwähnten Routinen, die manchmal durchaus mit inhaltlichen Wiederholungen einhergehen, den Connelly-üblichen Lektüresog erzeugen, liegt an der Meisterschaft, mit der dieser Verfasser seinen Stoff kontrolliert bzw. für seine Leser aufbereitet. Connelly ist ein anerkannter Meister des „police procedural“. In engem Kontakt mit der Polizei von Los Angeles, die er ungeachtet nicht verschwiegener Schwierigkeiten und Mängel verehrt, hält er sein Wissen um interne Abläufe aktuell. Wenn Polizei und Justiz sich in Gang setzen, wirkt dies ebenso bedrohlich wie überzeugend.
Natürlich steht am Ende dieses Romans die Auflösung in gleich mehreren Fällen, während der erfahrene Connelly zusätzlich einige Fragen unbeantwortet lässt und die Antwort auf den nächsten Band verschiebt: Wird Harry Bosch seine Leukämie-Krankheit (eine ‚Erbschaft‘ aus Bd. 13, „The Overlook“, 2007; dt. „Kalter Tod“) überstehen? Verschwindet die „Schwarze Witwe“ tatsächlich hinter Gittern? Werden Bosch und Ballard den im Epilog übernommenen Fall lösen? Dies mag ein recht offensichtlicher Trick sein, der sich aufgrund der Qualität der Connelly-Romane verschmerzen lässt.
Fazit
Zum 33. Mal inszeniert Autor Connelly den für ihn üblichen Kampf zwischen dem Recht bzw. Politik bzw. Medien und einer Gerechtigkeit, der notfalls auf Umwegen zur Geltung verholfen werden muss. Die Handlung ist kompliziert, wird aber ungeachtet diverser ‚Zufälle‘ glaubhaft aufgelöst.
Michael Connelly, Kampa
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