Top Job
- Diogenes
- Erschienen: Januar 1998
- 8
- New York: W. W. Norton, 1997, Titel: 'Cold Caller', Originalsprache
- Zürich: Diogenes, 1998, Seiten: 315, Übersetzt: Bernhard Robben
- Zürich: Diogenes, 2000, Seiten: 315
- München: Süddeutsche Zeitung, 2006, Seiten: 219
Zeigt erbarmungslos die schwärzesten Abgründe einer menschlichen Seele
Das Telefon klingelt. Ich denke mir noch still, wer das wohl sein könnte und hebe nichtsahnend ab. Eine Stimme meldet sich, die ich nicht kenne. Verwandtschaft, Freunde, Bekannte? Fehlanzeige! Irgendein Mann, der mir beibringen will, wie dringend ich noch eine Versicherung, einen Bausparvertrag, ein neues Handy oder sonst was haben muss. Lästig, solche Anrufe, weil ich nicht darum gebeten habe. Ich bin immer bemüht, solche Gespräche so rasch wie möglich zu beenden, aber die Stimme am anderen Ende der Leitung erzählt wie aus einem Guss, und da ich ja nicht unhöflich sein will, warte ich ab, bis sie mir das Angebot macht, dass mal ein Mitarbeiter bei mir zwecks Vertragsunterschrift vorbeikommt. Dann lehne ich ab und verabschiede mich. Und dann rege ich mich noch ein bisschen auf, wie diese Leute wohl auf meine Telefonnummer gekommen sind und wie aufdringlich sie mitunter sein können. Und dann überlege ich, weshalb wohl jemand einen solchen Job macht, denn er hat wohlmöglich regelmäßig mit solchen Leuten wie mir zu tun, an denen er sich die Zähne ausbeißt. Wahrscheinlich wird er auch von einigen Leuten beschimpft und andere legen auf, noch bevor er seinen Spruch zuende aufsagen konnte. Nein, um einen solchen Job in einem Call Center würde ich mich niemals reißen.
Bill Moss jedoch arbeitet in einem Call Center einer New Yorker Telefonfirma als so genannter Cold Caller und versucht neue Kunden zu finden, zu denen er dann einen Agenten schicken kann. Er arbeitet schon über zwei Jahre bei der A.C.A., ist damit deutlich länger in diesem Call Center als die meisten seiner Kollegen und hat es in der Zeit mehrfach zum Mitarbeiter des Monats gebracht. Eigentlich ist er für den Job überqualifiziert. Er war Vice President in einer Werbeagentur und eigentlich hat er auch Wirtschaft und Geschichte mit Auszeichnung studiert. Aber in New York findet er einfach keine neue Arbeit in der Werbebranche und schleppt sich so motivationslos Tag für Tag ins Büro. Eines Morgens gerät er in eine Rangelei in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit und kommt deshalb mit blutender Risswunde auf der Stirn rund eine Stunde zu spät zur Arbeit. Seinen Abteilungsleiter Mike interessiert der Grund für die Verspätung nicht und da dies bereits seine dritte Verspätung in diesem Monat ist, verpasst er ihm eine Abmahnung. Diese Ungerechtigkeit erzürnt ihn und es kommt zu einem Streit. Geschäftsführer Ed kann zwar Bill verstehen, lässt jedoch nicht zu, dass Mike vor den anderen Mitarbeitern sein Gesicht verliert. Bill muss an diesem Tag das Büro unbezahlt verlassen.
Zu hause erwartet ihn weiterer Stress. Seine Freundin Julie ist nicht zufrieden mit ihrer beider Lebensumstände. Sie würde lieber in einem schmucken, modernen Hochhaus mit Portier, Aufzug und Fitnessraum im Keller leben oder in einen Vorort ziehen. Außerdem würde sie gerne heiraten und Kinder haben. Aber Bill weiß an diesem Abend nicht mal wie er die Miete für den nächsten Monat aufbringen soll. Es kommt fast unausweichlich zum Streit zwischen den beiden, aber sie können sich wieder versöhnen und Bill sieht es ein, dass er am nächsten Morgen seinen Stolz überwinden und ins Call Center zur Arbeit gehen muss.
Auch dieser Tag soll nicht leicht werden für Bill, sein Chef Ed besteht darauf, dass er sich in der allmorgendlichen Besprechung vor allen Mitarbeitern für sein unvorbildliches Verhalten entschuldigen muss. Nach der Besprechung spricht er mit Greg, der wie viele andere im Call Center nicht gut auf seine Vorgesetzten zu sprechen ist, da die Provisionszahlungen seit Monaten ausstehen. Der kann nicht verstehen, dass sich Bill hat so erniedrigen lassen und er wünscht Mike, seinem Abteilungsleiter, und dessen Chef Ed, dem Geschäftsführer, den Tod.
Am Abend ist Julie mit einem befreundeten Pärchen verabredet, das Bill nicht ausstehen kann. Die beiden ziehen demnächst in einen noblen Vorort, er verdient inzwischen sechsstellig und kann sich nicht zurückhalten, dieses Bill unter die Nase zu schmieren. Irgendwann platzt Bill die Hutschnur und es kommt zum Eklat, er stellt die beiden bloß. Für seine Beziehung trägt das auch nicht gerade zu einer Entspannung der Lage bei. Beide streiten sich wieder und Bill kann Julie überzeugen, dass es wohl das Beste für beide sei, wenn sie gemeinsam in seiner Heimat Seattle einen Neuanfang wagen. Sie wollen ihre Jobs kündigen.
Am nächsten Morgen geschieht etwas unerwartetes in Bills Call Center. Geschäftsführer Ed kündigt an, dass 12 der 52 Angestellten im Laufe des Tages gekündigt werden soll und er mit jedem Mitarbeiter einzeln ein Gespräch führen wird. Irgendwann ist Greg, Bills farbiger Freund, an der Reihe und er geht Ed an den Kragen, nachdem er seine Kündigung erhält. Bill kann ihn vor schlimmerem bewahren, indem er ins Büro stürzt und Greg zurückhält. Nachdem sich die Aufregung gelegt hat, ruft Ed Bill zu sich. Bill rechnet nach den Geschehnissen der letzten Tage mit seiner Entlassung, wodurch er wenigstens noch Arbeitslosenunterstützung bekäme, aber Ed hat sich noch einmal die Personalakte näher angesehen und ist unerwartet der Meinung, dass Bill einen guten Assistenten abgeben könne. Er bietet ihm tatsächlich eine Beförderung an.
Weil er an diesem Abend sehr glücklich ist, kauft er von den dreihundert Dollar, die ihm Julie gegeben hatte, damit er mit seiner Wunde auf der Stirn zu einem Arzt ginge, ein Paar Ohrringe für seine Freundin. Zuhause ist diese aber zunächst mal gar nicht davon begeistert, dass Bill plötzlich doch nicht mehr nach Seattle will, da sie ihren Job an diesem Tag tatsächlich gekündigt hat. Auch über die Ohrringe ist die Freude eher verhalten, da sie in dem kleinen Kästchen eher die Verlobungsringe erwartet hätte. Außerdem sieht sie, dass die Risswunde auf der Stirn nicht behandelt wurde und sie wird von Bill über den angeblichen Arztbesuch und die Verwendung der dreihundert Dollar angelogen. Trotz des erneuten Streits versöhnen sich die beiden auch an diesem Abend wieder und wollen zum ersten mal seit Wochen wieder miteinander schlafen. Aber egal, was Julie auch versucht, bei Bill regt sich nichts und nun sieht er sich auch in seiner Sexualität einem hohen Druck ausgesetzt. Das Wochenende verbringen die beiden harmonisch, aber ohne miteinander zu schlafen.
Am Montag überzeugt Bill auch Nelson, den Präsidenten der Firma, mit Hilfe einer kleinen Lüge, dass er der Richtige für den Assistentenplatz ist. In seiner neuen Arbeit geht er in den folgenden Wochen auf und er sieht die große Chance, sich vielleicht nach einem halben Jahr wieder aussichtsreich um einen Job in der Werbebranche bewerben zu können. Nachdem er am Abend einer langgehegten sexuellen Phantasie nachgeht und mit einer Prostituierten schläft, erkennt er auch wieder, wie glücklich er eigentlich mit Julie sein kann und von diesem Abend an klappt es auch wieder in den heimischen Federn.
Das Glück scheint perfekt zu sein. Der neue Job ist top. Er ist zunächst mit einem Projekt betraut, das eine Datenbank für die Telefonisten erstellen soll und kann nach einiger Zeit bereits beträchtliche Erfolge aufweisen. Nelson, der Firmenpräsident, lädt ihn daraufhin sogar auf seine Segelyacht ein. Mit Julie verlobt er sich, sie planen bereits ihre Hochzeit und den Umzug in einen besseren Stadtteil. Alles scheint sich entspannt zu haben. Bills Leben, das aus den Fugen zu geraten drohte, läuft wieder in geregelten Bahnen ab. Bis, ja bis eines Tages Ed nicht mehr hinter ihm steht, weil Bill zuviel mit Nelson über die Abteilung redet und Ed wohl um seinen Job fürchtet. Als sich Ed etwas näher mit Bills Personalakte befasst, findet er eine kleine, aber entscheidende Lüge und sieht darin ein gefundenes Fressen. Nachdem alle anderen Mitarbeiter das Büro bereits verlassen haben, spricht er Bill die Kündigung aus. Alle Hoffnungen und Träume scheinen Bill in diesem Moment aus den Händen zu gleiten. Die so bunt ausgemalte Zukunft droht auf einen Schlag zu schwinden. Die Karriereträume endgültig geplatzt, vielleicht würde Julie ihn verlassen. In dieser Situation sieht Bill nur einen Ausweg. Er bringt Ed an diesem Abend im Büro um.
Was danach passiert, will ich hier nicht verraten. Das Buch nimmt noch einige überraschende Wendungen und zeigt wirklich erbarmungslos die schwärzesten Abgründe einer menschlichen Seele. In welche Richtung ermittelt die Polizei? Gibt es vielleicht einen Zeugen? Hat der Mord Auswirkungen auf seine Karriere? Kann er sich auch gegenüber Julie verstellen? Findet er eine gerechte Strafe?
Jason Starr, der 1968 geborene Autor von "Top Job", zeichnet ein beeindruckendes Psychogramm einer dem Druck der modernen amerikanischen Gesellschaft nicht gewachsenen Persönlichkeit, die nicht vor dem Scheitern der eigenen Existenz kapitulieren will und sich mit allen Mitteln dagegen wehrt. Durch die gewählte Erzählperspektive - Bill Moss erzählt rückblickend aus der Ich-Perspektive - vermittelt er dem Leser eine ungewöhnliche Nähe zum tragischen Helden, so dass man von Anfang an seine Verzweiflung miterleben und verstehen kann. Das Lügengebilde, das er sich mit jedem Kapitel zunehmend aufbaut, lässt den totalen Absturz erwarten. Dennoch weckt der Schriftsteller beim Leser Verständnis für den Mord im Affekt, indem er die Ausweglosigkeit Bills eindrucksvoll klarstellt. Wie sollte er auch anders auf die Kündigung reagieren, wenn ihm hinterhältig seine Zukunft zerstört wird? Besonders überzeugend wirkt die Charakterstudie aber, als es für Bill gilt seine Tat zu vertuschen und Spuren zu verwischen.
Ein tolles Buch, dass seinen Leser packt und trotz einer Länge von 316 Seiten locker in einem durch gelesen werden kann. Leider kamen mir beim lesen einige Ungereimtheiten, was den zeitlichen Ablauf der Handlung anging. Einmal heißt es, dass Nelson Bill für das übernächste Wochenende auf seine Yacht eingeladen habe und nach dessen Ablehnung die Einladung auf ein Wochenende irgendwann im August verschob. Kurz später führt Bill an, dass er seine erste Abmahnung an einem 27. Juli erhielt. Demnach hätte das Wochenende, für das Bill die Einladung erhalten hatte, selbst wenn er bereits in seiner ersten Woche auf dem neuen Posten das Datenbankprojekt zuende geführt hätte, um den 20. August liegen müssen. Das Buch liest sich aber, als liege das Wochenende, auf das die Einladung verschoben wurde, weit mehr als eine Woche dahinter. Dann spricht er von den glücklichen Wochen, die er mit Julie verbringt, in denen sie wieder mehrmals täglich Sex haben und wo langsam die Ehepläne reifen. Er berichtet von dem Projekt, dass er in der Firma voranbringt, die Datenbank, die er programmiert und die recht bald beträchtliche Einsparungen bringt. Das kann doch unmöglich in wenigen Wochen passieren. Zudem hatte ich an einigen Stellen den Eindruck, dass zwischen Mittwoch und Donnerstag noch mindestens ein weiterer Wochentag liegen muss. Hier erlaubt sich Jason Starr unverständlicherweise einige Ungereimtheiten, die doch recht unangenehm auffallen.
Trotz leichter Abzüge ein lesenswertes Buch, an dessen Ende der Leser erschrocken sein wird, wie weit man sich selber in die seelische Situation eines Gewalttäters versetzen kann. Hard boiled vom feinsten!
Jason Starr, Diogenes
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