Das Rätsel des roten Hengstes
- Heyne
- Erschienen: Januar 1983
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Sie lässt sich keinen Gaul aufbinden.
Violet Feverel mag sich selbst, ihren Hengst Siwash und vor allem möglichst viel Geld. Obwohl noch jung, wird das in der Werbung erfolgreiche Model von erstaunlich vielen Männern und Frauen gehasst. Den Ex-Gatten ließ sie ins Gefängnis werfen, weil er die Unterhaltszahlungen nicht leisten konnte. Die Stiefschwester ist ihr fremd und fühlt sich zu Recht unwillkommen. Selbst im Mietstall Twaithe, wo Violet den erwähnten Siwash untergestellt hat, sieht man sie am liebsten von hinten.
Doch Violet liebt frühe, schnelle Ausritte durch den Central Park der Stadt New York. Das wird ihr scheinbar zum Verhängnis, als man dort ihre Leiche findet. Aus der für die Polizei arbeitserleichternden Diagnose „Reitunfall“ wird nichts, da Miss Hildegarde Withers ihren Hund im Park ausführt. Schon oft hat sich die ältliche Lehrerin als Amateurdetektivin betätigt und als solche einen Namen gemacht. Inspektor Oscar Piper von der Mordkommission hört deshalb gern auf die scharfsinnige Frau.
Miss Withers erkennt einen raffinierten Mord sowie am Tatort eine Pfeife, die offenbar der Täter hier verloren hat. Ihre Bemühungen, die Herkunft der Pfeife aufzuklären, führen sie - oft an Inspektor Pipers Seite - nicht nur dorthin, wo offiziell nach dem Täter (oder der Täterin) gefahndet wird, weil Miss Withers auch Verdachtsmomente berücksichtigt, die den beschränkten Horizont der New Yorker Polizei überschreiten. Allerdings gerät sie auf ihren Nachforschungen auch an Orte, wo sie ebenfalls einem ‚Unfall‘ zum Opfer fallen könnte ...
(K)eine reizende alte Dame
Hildegarde Withers ist offenkundig eine robuste, US-amerikanische Version von Agatha Christies Miss Jane Marple. Allerdings kann sie, die das Krimi-Genre mitgestaltet hat, nicht beanspruchen, die Figur der alten, aber intelligenten, lebenserfahrenen und kriminalistisch interessierten Dame erfunden zu haben. Der Kontrast ist einfach zu reizvoll, um nicht schon früher (und natürlich später) anderen Autoren aufgefallen zu sein: In einer Person ist die hinfällige Greisin mit der scharfsinnigen Detektivin vereint und - obwohl ‚nur‘ eine Frau - wider alle Wahrscheinlichkeit erfolgreich ist, wo der (männliche) Polizeiapparat scheitert.
Miss Withers ist ein wenig jünger als die übliche Detektiv-Oma. Sie kann problemlos weite Strecken zurücklegen und ist auch sonst nicht nur belastbar, sondern auch zu jeder Anstrengung bereit, hat sie erst einmal einen Fall übernommen = an sich gerissen. Autor Stuart Palmer beschreibt bewusst jenen Moment, in dem Miss Withers die Fährte aufnimmt und wie ein Bluthund nicht mehr lockerlässt. Miss Withers ist kein umgänglicher Mensch. Sie verweist gern auf ihre Jahre als Schullehrerin, in denen sie mit allen Schlichen und Gemeinheiten konfrontiert wurde, derer der Mensch fähig ist. Überhaupt ist Miss Withers nüchtern, charakterkühl und eigensinnig über das eigentlich tolerable Maß hinaus; hier lässt sie beispielsweise die oben erwähnte Pfeife - ein Beweismittel - verschwinden, um sie ohne Wissen der Polizei im Rahmen ihrer privaten Ermittlung einzusetzen.
Anders als Miss Marple muss sich Miss Withers keine Gedanken über Konsequenzen machen. In Inspektor Oscar Piper hat sie einen mächtigen Verbündeten. Seine Langmut erstaunt; Miss Withers kann sich jeden Alleingang erlauben. Sie begleitet ihn während seiner Arbeit und nutzt wie selbstverständlich die Fahndungsmöglichkeiten der Polizei: Realismus steht für den Verfasser offensichtlich nicht an erster Stelle.
Krimi in und als Reihe
Stuart Palmer (1905-1968) wurde nicht alt, und den Rang eines Krimi-Klassikers hat er nie erreicht; er gehörte zu den Autoren, die vor allem fleißig waren. Dennoch hinterließ er seine Spuren, denn ihm gelang etwas, das mit einem Lottogewinn gleichzusetzen ist: Er kreierte eine Heldin, die nicht nur das Gefallen erfreulich vieler Leser fand, sondern auch ihre Serientauglichkeit unter Beweis stellte. Serien sichern dem berufstätigen (und nicht ‚genialen‘) Schriftsteller die Butter auf dem Brot. Er hat eine Figur und ihre Welt erschaffen und damit eine grundsätzliche Arbeit geleistet, die er sich zukünftig sparen kann. Die Fans einer Serie lieben keine Abweichungen vom Schema, weshalb sich besagter Autor auf Variationen beschränken kann.
Irgendwann schlägt das Pendel in die andere Richtung um: Wie oft kann man einen Plot und eine Figur auftreten lassen, ohne in Routine zu verfallen? Manchmal gelingt der Seiltanz. Hildegarde Withers ist jedenfalls öfter detektivisch aktiv geworden als Jane Marple. Zwischen 1931 und 1954 entstanden 14 Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. Einen weiteren Band schrieb Palmer 1963 gemeinsam mit Craig Rice, und Fletcher Flora vollendete 1969 ein letztes, nach Palmers frühem Tod unvollendet gebliebenes Manuskript. Auch ins Kino hat Miss Withers es - s. u. - mehrfach gebracht.
Mit „Das Rätsel des roten Hengstes“ lässt sich Palmers Erfolgsrezept gut fassen. Er schuf eine Parallelwelt, die eigenen bzw. der Unterhaltung verpflichteten Regeln folgte. Die Figurenzeichnungen sind oberflächlich und klischeehaft, aber gerade deshalb prägnant und wirkungsvoll. Das Milieu ist quasi märchenhaft; so wird die zum Zeitpunkt der Handlung herrschende Weltwirtschaftskrise mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen folgen die Ereignisse einer ‚Logik‘, die sich der Dramatik und dem Effekt unterwirft. Die beschriebenen Morde sind bizarr und überaus umständlich eingefädelt; dies ermöglicht ein großes Finale, in dem Miss Withers auflöst, was Autor Palmer reizvoll verwirrt hat. (In diesem Zusammenhang müssen auch jene rasanten Passagen gelobt werden, die während eines Pferderennens spielen.) Gerade diese Realitätsferne bedingt einen Nostalgiefaktor, der diesem Garn weiterhin einen Unterhaltungswert garantiert.
„Das Rätsel des roten Hengstes“ im Kino
In den 1930er Jahren konnte Stuart Palmer in Hollywood Fuß fassen. Zuvor war man dort auf die erfolgreichen und gut für das Kino zu adaptierenden Hildegarde-Withers-Romane aufmerksam geworden. Später begann Palmer selbst Drehbücher zu verfassen. Seine Karriere blieb auf die „B“-Kategorie des Kinos beschränkt. Hier kurbelte man höchstens 70 Minuten ‚lange‘, möglichst kostengünstig und gern in Serie Streifen herunter, die vor dem hochkarätig produzierten „Hauptfilm“ gezeigt wurden. Abgehalfterte und aufstrebende Stars sorgten gemeinsam mit handwerklich begabten Profis vor und hinter der Kamera dafür, dass ungeachtet der beschränkten Mittel oft unterhaltsame und auf den Punkt inszenierte Filme entstanden.
Bereits 1932 brachte das Studio „RKO Radio Pictures“ einen ersten Film mit Hildegarde Withers in die Kinos. Ausgezeichnet verkörpert wurde sie von Edna May Oliver (1883-1942). Dieser Streifen war so erfolgreich, dass Oliver noch in zwei anderen Filmen als Miss Withers auftrat. 1936 und 1937 spielte ZaSu Pitts (1894-1962) die Detektivin.
„Murder on a Bridal Path“ entstand kurz nach Erscheinen des Romans „The Puzzle of the Red Stallion“ (der man bereits 1935 in Fortsetzungen in der „Chicago Tribune“ vorveröffentlicht hatte). Zum ersten und einzigen Mal übernahm Helen Broderick (1891-1959) die Rolle der Hildegarde Withers, während Oscar Piper wie üblich von James Gleason (1882-1959) gespielt wurde. Die Regie teilten sich Edward Killy (1903-1981) und William Harrington (1893-1942), der eigentlich als Filmcutter tätig war. Für das Drehbuch des nur 66-minütigen Films zeichneten gleich vier Autoren (Dorothy Yost, Thomas Lennon, Edmund North, James Gow) verantwortlich.
Fazit
Sechster Band einer einst erfolgreichen Krimi-Serie; eine an Agatha Christies Miss Marple angelehnte, deutlich lauter auftretende Amateurdetektivin löst an der Polizei vorbei einen spannenden, aber unrealistisch komplizierten Mord: Der Plot deutet schon den nach dem Roman entstandenen Film an.
Stuart Palmer, Heyne
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