Typisch Cole - düster, hart, humorvoll.
1989: Während eines bitterkalten, verschneiten Februarabends wird Detective Sergeant Benjamin Chambers an einen Tatort im Londoner Hyde Park gerufen. Vor Ort trifft er auf Constable Adam Winter. Beiden bietet sich ein grausamer, aber zugleich auch faszinierender Anblick: Auf einer Säule sitzt ein Mann - tot und in der Pose von Rodins „Der Denker“. Nach der rechtsmedizinischen Untersuchung steht fest, dass das durch ein starkes Muskelrelaxans bewegungsunfähige Opfer aufgrund der eisigen Kälte erfroren ist. Wenige Tage später werden zwei weitere Leichen gefunden, die ebenfalls in kunstvoller Weise inszeniert wurden: eine Mutter und ihr Sohn, zur Schau gestellt wie Michelangelos bekannte Skulptur „Pietà“. Chambers und Winter kommen dem vermeintlichen Täter bei ihren Ermittlungen immer näher - bis plötzlich und unerwartet ein Obdachloser die Morde gesteht. Doch Chambers glaubt nicht daran, dass dieser der Täter ist. Als er einer weiteren Spur nachgeht, kommt er dem wahren Mörder zu nahe und wird lebensgefährlich verletzt. Beinahe acht Jahre später rollt die junge Polizeianwärterin Jordan Marshall den Fall wieder auf. Doch sie ahnt nicht, dass sie damit auch den Killer wieder weckt. Und der will sein (Kunst-)Werk nun vollenden.
„Ragdoll“-Autor ist zurück
Nachdem 2019/2020 die weltweit erfolgreiche New-Scotland-Yard-Trilogie („Ragdoll“, „Hangman“, „Wolves“) des Engländers Daniel Cole hierzulande veröffentlicht wurde, ist es ruhig um den britischen Autor geworden. Nun erscheint beim Ullstein Buchverlag ein langersehnter neuer Thriller, der zwar ein anders Ermittlerteam hat, in der Erzählweise aber den „Ragdoll“-Romanen ähnelt: düster, kompromisslos, aber auch voller britischem Humor. Darüber hinaus scheint der englische Autor erneut nicht nur eine Vorliebe für Mörder zu haben, die ihre Opfer kunstvoll zur Schau stellen, sondern auch für ungewöhnliche Ermittlerfiguren.
„Die Muse“ ist zwar zunächst ein Standalone, der Schluss des Romans macht aber Hoffnungen darauf, dass Cole vielleicht doch eine Reihe daraus entwickelt. Lohnenswert wäre es allemal. Wer so lange nicht warten kann, muss sich mit Coles aktuellem, ebenfalls eigenständigen Thriller „Jackdaw“, der Ende 2023 in Großbritannien erschien, trösten.
Schatten der Vergangenheit
Ein Ereignis, das das Leben gleich von drei Polizisten für immer verändern sollte: die Nacht, als Constable Winter DS Chambers das Leben rettete, während seine Kollegin Reilly ihres verlor. Mit einem Mal ist nichts mehr, wie es war. Damals, vor beinahe acht Jahren, war Benjamin Chambers noch ein junger, erfolgreicher Ermittler und nicht das ergraute, pillenschluckende Wrack, das ihn jetzt jeden Morgen aus dem Spiegel anschaut. Seine Erscheinung flößte Respekt ein. Auch wenn seine Körpergröße trotz der schweren Beinverletzung, die er davontrug, immer noch dieselbe ist, ist er unscheinbar geworden, nur ein Schatten seiner selbst. Während er früher trotz permanenten Schlafentzugs im Dienst reibungslos funktionierte, ist er nun kraftlos, von finsteren Erinnerungen geplagt und von andauernder Erschöpfung gezeichnet. Sein analytischer Verstand, der ihn einst auszeichnete, wird immer träger. Sein einstiger Kollege Constable Adam Winter ist seit der schicksalhaften Nacht arbeitsunfähig. Während ihn immer noch Albträume quälen, schlägt er sich mit einem Job als Sicherheitsmann im Supermarkt durchs Leben.
Jordan Marshall, die den Fall zunächst inoffiziell neu aufrollt, ist Constable in der Ausbildung und arbeitet eigentlich beim Rauschgiftdezernat. Sie hat quasi ihr „Hobby“ zum Beruf gemacht, da sie sich in ihrer Freizeit zum Runterkommen gerne Heroin oder andere Stoffe spritzt. Das Gothic Girl, das sich an wilden Tagen auch schon einmal „bunt“ - schwarzes Hemd mit dunkelbrauner Hose - kleidet, ist aus persönlichen Gründen an der Auflösung des alten Falles interessiert, da sie mit einem damaligen Opfer befreundet war. Es bedarf aber einiger Überzeugungskraft und neuer Beweise, nicht nur Chambers und Winter wieder mit ins Boot zu holen, sondern auch von der Chefin des Morddezernats bei Scotland Yard die Genehmigung für weitere Ermittlungen zu erhalten.
Einfach lesenswert
Selbstredend muss man sich auf das unkonventionelle Ermittlertrio einfach einlassen und darf nicht danach fragen, warum zwei schwer traumatisierte Beamte und eine drogenabhängige Novizin die Ermittlungen genau in dem Fall wieder aufnehmen dürfen, der die Ursache allen Übels ist. Denn gerade die Besonderheit dieses Teams und die Eigenheiten der einzelnen Mitglieder sorgen für beste Unterhaltung. Vor allem Adam Winter sorgt mit seinem oftmals unbeholfenen Verhalten und unbedachten Aussagen für so manchen Schmunzler. Er erinnert in seinem Auftreten an Rhys Ifans in seiner Rolle als Spike im Film „Notting Hill“.
Dennoch muss man wie bei Daniel Cole gewohnt nicht auf jede Menge Action und Spannung verzichten. Besonders der zweite Teil des Romans, wenn der Fall wieder neu aufgerollt wird, ist wirklich packend geschrieben. Auch besitzt die Figurengestaltung trotz so mancher Skurrilität genügend Tiefgang und Ernsthaftigkeit, um die Handlung glaubwürdig zu gestalten. Besonders die Gespräche zwischen Chambers und seiner Frau Eve zeigen das ganze Dilemma des Detective Sergeants auf, der nicht ermitteln kann, aber es für sich muss.
Fazit
Wer die New-Scotland-Yard-Trilogie mochte, wird auch von Coles neuem Thriller begeistert sein. „Die Muse“ ist Unterhaltung pur. Mit (schwarzem) Humor, elektrisierender Spannung, einem ungewöhnlichen, aber äußerst cleveren Plot und schrägen Figuren hat der Thriller einiges zu bieten. Daniel Cole ist einfach „außergewöhnlich“ gut!
Daniel Cole, Ullstein
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