Nachtkommando

  • Piper
  • Erschienen: Februar 2024
  • 1
Nachtkommando
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Michael Drewniok
75°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2024

Im Reich des perfektionierten Verschwindenlassens.

Im bitterkalten Winter des Jahres 1940 bibbert in Berlin die nazideutsche „Volksgemeinschaft“ für den „Führer“. Nur wenige Monate, nachdem Hitler den Zweiten Weltkrieg angezettelt hat, greifen harsche Rationierungsvorgaben, die Kohle und Öl ausdrücklich einschließen. Die Nazi-Prominenz nimmt sich und ihre Helfershelfer davon aus; wer sich deshalb oder überhaupt gegen sie auflehnt, verschwindet rasch und meist spurlos. Längst sind Judenverfolgungen und -deportationen an der Tagesordnung.

Dr. Manfred Schmesler gehört zu den Nutznießern des Regimes. Um seine Karriere zu pushen, ist der Kinderarzt in die Partei eingetreten und seit einiger Zeit Teil eines geheimen Projekts. Nun findet man ihn in seinem Arbeitszimmer. Offenbar hat er sich erschossen. Die Polizei will die Akte auf Anweisung von „oben“ schließen, aber Gattin Brigitte glaubt an einen Mord. Sie ignoriert die offensichtliche Vertuschung und wendet sich an Kriminalinspektor Horst Schenke.

Obwohl die Kriminalpolizei von der SS übernommen und in die Machenschaften der Nazis eingebunden wurde, hält sich Schenke aus der Politik heraus. Er will nur Fälle klären und hofft nicht instrumentalisiert zu werden. Doch seit er im Vorjahr einen delikaten Fall lösen konnte, haben ihn hohe Nazis auf dem Schirm. Ausgerechnet Reinhard Heydrich, der skrupellose Leiter des Reichssicherheitshauptamts und sein oberster Vorgesetzter, lässt Schenke eine ‚Warnung‘ zukommen: Er soll die Finger vom ‚Fall‘ Schmesler lassen, was auf eine Geheimaktion der Gestapo hinweist.

Schenke gibt nach und konzentriert sich auf die seltsamen Todesfälle in einer ‚Klinik‘, die sich um körperlich und geistig behinderte Kinder ‚kümmert‘. Bald steht fest, dass hier Schreckliches vor sich geht. Zu den hochrangigen Nazi-Ärzten, die an diesen Aktivitäten beteiligt sind, gehörte auch Schmesler. Schenke und seine Mitarbeiter sind einem sorgfältig vertuschten Projekt der Nazis auf die Spur gekommen. Das bringt sie in Lebensgefahr, denn das Regime duldet keine Mitwisser dort, wo es seine Ideologie unverhüllt grausam in die Tat umsetzt ...

Entsetzen aus zweiter Hand

Es dauerte erwartungsgemäß nicht lange, bis Simon Scarrow seine erst 2022 gestartete Serie um Kriminalinspektor Horst Schenke fortgesetzt hat. Er ist ein ungemein fleißiger Autor, der in Sachen Neuveröffentlichungen dank eines ihm zuarbeitenden Mitarbeiterstabs und manchmal ‚unterstützt‘ durch ‚Ko-Autoren‘ eine eindrucksvolle Schlagzahl halten kann. Auch die dichte Chronologie weist darauf hin, dass Schenke noch weiteren (Nazi-) Verbrechen auf die Schliche kommen soll: Gerade erst hat er im Dezember 1939 einen Serienkiller gefasst, da geht es schon wuchtig weiter.

Der eisige Kriegswinter der ersten Jahreshälfte 1940 bildet den Hintergrund für ein neues Krimi-Abenteuer. Dieses erinnert an eine Zwiebel: Schenk und seine Leute arbeiten an mehreren offenen Fällen, die sich nach und nach als Teile eines Gesamtverbrechens entpuppen. Scarrow will nicht nur spannende Krimi-Geschichten erzählen, sondern dabei auch an die Präsenz eines staatlich geförderten Unrechts erinnern, das in dieser Intensität und unverhohlenen Menschenverachtung neu war. Er betont dies sowohl in einer Vorbemerkung als auch in einem ausführlichen Nachwort; eine Absicherung, denn Scarrow dreht thematisch ein gewaltiges Rad, kann dem jedoch nicht wirklich gerecht werden.

Schon der erste Band der Serie legte eine zentrale Schwäche offen: Schenke ‚enthüllt‘ Verbrechen, die in die Geschichte eingegangen sind. Er mag damit argumentieren, dass seine Leser mehrheitlich solche Informationsliteratur meiden und er deshalb einspringt. Nichtsdestotrotz wollen sich Überraschung und Entsetzen der Protagonisten nicht mitteilen, eben weil bekannt ist, dass die Nazis ihre krude Vision einer ‚vorbildlichen‘ Gesellschaft auch durch systematischen Massenmord realisieren wollten.

Erkenntnis als Last

Dieses Mal spielt die damit verbundene Verfolgung der Juden eine Nebenrolle. Scarrow lässt zwar die „U-Boot“-Jüdin Ruth Frankel, die sich hungernd und frierend vor den KZ-Greifern des Regimes verbergen muss, an dieses NS-Verbrechen erinnern. Sie ist außerdem Schenkes Gewissen, das ihn an sein Mitläufertum erinnert, und seine heimliche Liebe, was die Handlung um einschlägige Drama-Effekte bereichert/bereichern soll.

Hauptsächlich geht es dieses Mal um die Euthanasie der Nazis, deren Mordlust keineswegs vor der eigenen „Volksgemeinschaft“ Halt machte. Körperliche und geistige Behinderungen schlossen auch ‚echte‘ Deutsche aus. Sie galten als ‚Fehlschläge‘ der Natur, die „ausgemerzt“ gehörten; dies auch deshalb, damit für Pflege und Ernährung ‚verschwendete‘ Ressourcen besagter „Volksgemeinschaft“, aber eigentlich dem Krieg zugeschlagen werden konnten, der für Hitler seit jeher zentrales Element seiner Pläne war.

In dieser Reihe geht es immer um elementare Entscheidungen, denen sich die Deutschen stellen müssen, die nicht vom Regime verfolgt, sondern sogar begünstigt werden, weil sie spuren, nicht aufmucken und wegschauen, wenn Nicht-„Volksgenossen“ verschwinden. Stellvertretend wird dies für Zeitgenossen wie Schenke oder seine Assistenten Hauser und Liebwitz zum Problem. Letzterer ist zudem Mitglied der SS und wurde entsprechend geschult. Dass auch Liebwitz’ Regimetreue zunehmend ins Wanken gerät, wird ausgiebig thematisiert.

Die Guten, die Bösen und ein ehrgeiziger Autor

Vor allem Schenke, Hauser und Liebwitz sollen ‚gute‘ Nazis sein. Dies ist ein Widerspruch, an dem sich schon deutlich begabtere Schriftsteller als Scarrow versucht haben. Er scheitert, obwohl oder gerade, weil er sich wortreich bemüht, vor allem Schenkes Zweifel und seelischen Nöte zu beschreiben und diese in seinem Handeln widerzuspiegeln. Dass es dabei hakt, weiß Scarrow selbst. Mutigere Zeitgenossen wie Ruth Frankel oder Schenkes Geliebte Karin Canaris werfen ihm seine Vorsicht vor. Schenke will mit den Wölfen heulen, sich aber die Finger nicht blutig machen - ein ‚Plan‘, der scheitern sowie handlungsprägend für die nächsten Bände der Serie bleiben dürfte.

Doch der ‚gute‘ Nazi ist eine grundsätzlich zwielichtige Figur. Scarrow lässt Schenke einen zunehmend riskanteren Eiertanz aufführen. Einerseits schreckt er zurück, wo ihm theatralisch überzeichnete Nazi-Monster wie Heydrich („‚Lügner‘, brüllte Heydrich und schlug Schenke hart mit dem Handrücken ins Gesicht. ‚Für wen arbeitest du, du Sau?‘“) Ermittlungsgrenzen setzen, andererseits lässt ihn Scarrow zielgenau zurück in die ihm verbotenen Nazi-Machenschaften stolpern, obwohl er (scheinbar) anders gelagerten Fällen nachgeht. Wenn Schenke und sein Team dabei die Wahrheit aufdecken, verpufft dies notgedrungen wirkungslos: In den Geschichtsbüchern lesen wir nichts davon, dass mutige Berliner Kripobeamte dem Kindermord der Nazis ein Ende setzten; kein Wunder, denn so weit greift die literarische Freiheit nicht, dass Scarrow die historische Realität ignorieren könnte!

Der Autor bemüht sich, diese Ermittlung durch Spannungselemente zu beleben. Er hat sich offensichtlich in Karten, Bilder und Texte über Berlin um 1940 vertieft und ‚kennt‘ die Schauplätze, an denen sich Dramatisches ereignet. Schießereien, Schlägereien, elend schlechtes Wetter und vor allem im Finale ein bemerkenswerter Blutzoll sorgen für Schwung. Doch was nützt dies, wenn wir Leser wissen, dass anschließend ‚gelöscht‘ wird, was Schenke erfahren musste? Vor dem nächsten Fall steht er wieder in denselben Startlöchern. Er wird sich Vorwürfe machen, hin und wieder ein Auge dort zudrücken, wo das Regime ihm nicht auf die Finger schaut, und weiterhin unter Druck ermitteln, weil Nazi-Wölfe à la Heydrich oder Heinrich Himmler ihn belauern – Routinen, die mit ‚tragischen‘ Erkenntnismomenten, Liebesgeschichten und Schicksalsschlägen verknüpft werden, was wohl die wahre Grundlage dieser Serie darstellen dürfte.

Fazit

Schon der zweite Band der Schenke-Serie legt bestimmte Handlungsvorgaben bzw. -mechanismen offen, die das Geschehen auf eine Weise beeinflussen, die ihm viel Spannung nehmen. (Brutale) Überraschungen erleben nur die Protagonisten; die Leser wissen über die Hintergründe der beschriebenen Taten Bescheid: Krimi-Thriller auf dem Niveau einer Streaming-Mini-Serie, also gespickt mit Action und Dramatik, die freilich einschlägigen Stereotypen folgen.

Nachtkommando

Simon Scarrow, Piper

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