Am Anfang ist der Tod

  • Suhrkamp
  • Erschienen: September 2023
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Brigitte Grahl
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2024

Furioser Höllentrip durchs finsterste Berlin.

Lukas Kocaj ist ein junger Kripobeamter aus Neukölln, der gerade seine Ausbildung beendet hat. Nach einer denkwürdigen Nacht, die er mit Gewalt und Drogen wie im Rausch verbracht hat, bekommt er seinen ersten Fall zugeteilt: Aus einem katholischen Mädcheninternat ist die 16-jährige Rebecca verschwunden, alles deutet auf eine Gewalttat hin. Zusammen mit dem verrufenen, „härtesten Hund“ des Kommissariats, Otto Ritter, beginnt er seine Nachforschungen. Dabei gerät er immer mehr in einen Strudel der Gewalt und die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit. Für Kocaj und alle anderen Beteiligten wird die Reise durch die Berliner Nacht zu einem wahren Höllentrip.

Vom Opfer zum Täter: Die Grenze zwischen Gut und Böse verschwimmt

Jesus Canadas beginnt das Buch mit einer großartig ambivalenten Szene. Der Ich-Erzähler wurde gerade von seiner Freundin abserviert. Auf dem nächtlichen Nachhauseweg läuft er die ganze Zeit einer jungen Frau hinterher, die zufällig den gleichen Weg hat. Statt die Situation aufzuklären oder zu entschärfen, genießt er die Angst der Frau vor ihm bis zum letzten Moment.

Beruflich steht der Ich-Erzähler als Polizist auf der Seite der Guten, die die Schwachen vor den Bösen schützen sollen, die Opfer vor den Tätern. Davon ist er, ebenso wie seine Kollegen, überzeugt. Aber diese Abgrenzung verwischt bis zur Unkenntlichkeit, wenn Kocaj und seine Kollegen eigenmächtig festlegen, wer schuldig ist und deshalb keine Gnade verdient.

Kocaj ist vom Verhalten seines Polizeipartners Ritter abgestoßen: ein sexistischer, rassistischer Macho, der für seine Härte und Grenzüberschreitungen berüchtigt ist. Sein Selbstbild als besserer Mensch gerät aber ebenso ins Wanken wie sämtliche anderen Gewissheiten.

Letztendlich ist in „Am Anfang ist der Tod“ niemand, bedingt durch den subjektiven Blick des Erzählers, was er oder sie auf den ersten Blick erscheint.

Vom Krimi zum Horror: Die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmt

Im ersten Teil ist Lukas Kocaj der Ich-Erzähler. Die Ereignisse, die er schildert, sind zuerst noch in der Realität angesiedelt, doch zunehmend mischen sich mysteriöse und übernatürliche Momente ein. Sind seine Erlebnisse vielleicht nur das Ergebnis von zu vielen Drogen, gleitet der Protagonist in den Wahnsinn ab oder sind die monströsen Gestalten und das Geschehen tatsächlich real? Canadas Buch lässt durchaus im ersten Teil zwei Lesarten zu.

Dagegen ist der zweite Teil eindeutig im Fantastischen angesiedelt. Ich-Erzählerin ist eine Frau, die durch die Hölle geht. Die Gegner, mit denen sie konfrontiert wird, scheinen den Bildern von Hieronymus Bosch entsprungen zu sein. Aber immer noch gibt es reale Menschen, die sie durch das nächtliche Geschehen begleiten

Der Schauplatz: Berlin als Vorhof der Hölle

„Hier in Berlin sind mehr Gräueltaten begangen worden als an jedem anderen Ort der Welt, von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen. Die gesamte Stadt ist wurmstichig, durchlöchert, faulig.“

Das Buch beginnt und endet mit einer Nachtszene. Auch dazwischen sehen die Hauptfiguren immer weniger das Tageslicht. Mit fortschreitendem „Wahnsinn“ spielt die Handlung fast nur noch abends oder nachts. In der Nacht entpuppt sich Berlin als Hort des Bösen, die Hauptfiguren gehen buchstäblich durchs Fegefeuer. Die Hässlichkeit der Architektur ist ein Spiegelbild der Menschen, die sich dort aufhalten. Die Nacht ist in den Menschen und formt sie zu monströsen Kreaturen.

Jesus Canadas hat selbst in Berlin gelebt und kennt anscheinend die hässlichsten Ecken der Stadt, die er zum Schauplatz seiner Handlung macht. Wie ein Anti Berlin-Reiseführer schickt er seine Figuren an Orte, um die jeder Tourist einen Bogen macht.

Dass die Geschichte im Winter spielt, verstärkt nur die Dunkelheit und Kälte, die sie ausstrahlt.

Die Hauptpersonen geraten in einen Strudel der Gewalt

Gewalt zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch, verbale und körperliche, privat und gesellschaftlich. Lukas Kocaj ist der Sohn eines prügelnden Vaters, der seine Mutter geschlagen und in den Selbstmord getrieben hat. Jetzt hat sich das Machtverhältnis umgedreht: Der schwerkranke Vater ist auf ihn angewiesen. Kocaj kümmert sich widerwillig um ihn, denn er erntet dafür von seinem Vater Beleidigungen statt Dank.

Er ist, ebenso wie sein Vater, Polizist. Eigentlich einer von den Guten. Aber ebenso wie seine Kollegen legt er das sehr subjektiv aus: Wer in ihren Augen schlecht ist, bekommt es deutlich zu spüren. Die Brutalität, die sie in ihrem Beruf erleben, überträgt sich auch auf ihr eigenes Verhalten.

Das Viertel, in dem er lebt, ist ein hartes Pflaster: In Neukölln leben viele Menschen mit Migrationshintergrund, die Gewalt und Ausgrenzung erfahren und selbst an andere weitergeben. Noch eine Stufe niedriger stehen die Menschen, die im benachbarten Flüchtlingsheim untergebracht sind.  Sie sind vor Gewalt geflohen und erfahren sie auch hier wieder. Auf der untersten Stufe aber stehen die Frauen, egal ob Deutsche, Migrantinnen oder Flüchtlinge – an ihnen lassen Männer ihren Frust aus.

Auf der Metaebene eine Gesellschaftskritik

„Es sind immer Männer. Ehemänner, Brüder, Verlobte, Nachbarn, Lehrer, Bekannte. Und sie stehen immer im Dienst des Königs, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Niemand hält sie von ihren Gräueltaten ab, … niemand stoppt sie.“

Jesus Canadas Buch ist verrückt, brutal - und feministisch. In „Am Anfang ist der Tod“ wird gefoltert, vergewaltigt und gemordet. Es wimmelt von Monstern, menschlichen und metaphorischen. Was sein Buch herausragen lässt aus der Masse der Fantasy ist seine Metaebene.

Als Spanier ist Canadas mit dem Katholizismus aufgewachsen. Dessen Symbole sind im Horrorgenre beliebt und auch Canadas bedient sich daran reichlich ebenso wie an populären Motiven des Horrorgenres. Aber sie sind nicht nur bloßer Effekt, sondern haben auch einen tieferen Sinn.      

 „Am Anfang ist der Tod“ ist eine fantastische Selbstermächtigungsgeschichte von Frauen. Auch wenn es im letzten Teil ein paar zu didaktische Reden gibt, ist es ein kluges und originelles Buch über Gewalt an Frauen und eine harte Gesellschaftskritik. 89.000 Frauen wurden laut UN 2022 weltweit von Männern aus Frauenhass ermordet. Canadas stellt Femizide als dämonischen Kult dar, in dem die Männer ihrem grotesk missgestalteten „König“ Frauen als Opfer darbringen.

Das Buch endet mit einer Szene, die dem Anfang ähnelt, aber diesmal mit vertauschten Rollen. Canadas bietet im Epilog eine im doppelten Sinn fantastische Lösung an, die wohl leider Utopie bleibt.

Fazit

„Am Anfang ist der Tod“ ist vordergründig eine spannende Mischung aus Krimi und Horrorthriller. Brutal, verrückt und düster. Die fantastischen Elemente lassen sich aber auch metaphorisch lesen. Dann wird aus „Am Anfang ist der Tod“ eine harte und originelle Gesellschaftskritik zum Thema Femizid. Damit hebt sich Canadas Buch deutlich aus der Masse der Fantasyliteratur heraus – im besten Sinn!

Am Anfang ist der Tod

Jesús Cañadas, Suhrkamp

Am Anfang ist der Tod

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