Das tibetische Orakel
- Rütten und Loening
- Erschienen: Januar 2003
- 9
- New York: St. Martins Minotaur, 2002, Titel: 'Bone Mountain', Seiten: 424, Originalsprache
- Berlin: Rütten und Loening, 2003, Seiten: 655, Übersetzt: Thomas Haufschild
- Berlin: Aufbau, 2005, Seiten: 652
Wenn einer eine Reise tut...
In Tibet ticken die Uhren anders. Alles ist irgendwie mystischer und die Tibeter sind fest verwurzelt in einer tiefen Religiosität, einem unbeirrbaren Glauben in die Lehren des Buddhismus. In kaum einem anderen Land der Welt wäre es wohl in der heutigen Zeit noch vorstellbar, dass eine Karawane mit einem alten Relikt, dem Auge einer Buddhastatue, aufbricht, um es in das Tal zurückzubringen, aus dem es einst von den chinesischen Besatzern gestohlen wurde. In dieser Karawane befindet sich auch Shan, der nach seiner Entlassung aus einem Lao Gai, jenen berüchtigten chinesischen Arbeitslagern in Tibet, noch immer ohne Papiere zusammen mit den alten Mönchen Lokesh und Gendun durch den Tibet streift. Der Grund für seine Teilnahme an dieser Karawane ist ein Orakel, dass gesagt hat, nur ein Chinese könne das Auge an seinen angestammten Platz zurückbringen. Für Gendun und Lokesh stand sofort fest, dass nur Shan dieser integere Chinese sein kann.
Doch noch bevor die Reise losgehen kann, wird ein junger Mönch offenbar von einem alten Mönchswächter umgebracht. Eine Gestalt, wie sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr im Tibet aufgetaucht ist. Überstürzt wird das Lager verlassen und der lange Fußmarsch begonnen, denn das Tal liegt einige Tagesmärsche im Norden. Unterwegs trifft Shan auf einen amerikanischen Diplomaten, der auf der Suche nach einer jungen Frau, Mitarbeiterin eines Projekts, dass im tibetischen Hochland nach Öl bohrt. Die Frau ist seit Monaten verschwunden und wurde von den Chinesen für tot erklärt, aber ihre Lebensgeschichte wirkt eine Faszination auf den Amerikaner aus, so dass er sie unbedingt finden muss, und seien es auch nur ihre sterblichen Überreste. Zufälliger Weise bohrt die Projektgesellschaft genau in dem Tal nach Öl, in das das Auge gebracht werden soll, weswegen der Amerikaner seinen Weg mit der Karawane und Shan fortsetzt.
Die Karawaner zieht weiter - und wird bestohlen
Ziemlich schnell hat die Karawane den größten Teil ihres Weges zurück gelegt, aber auf dem letzten Abschnitt beginnt eine Herumeierei, die schließlich darin endet, dass Shan nachts überfallen und das Auge gestohlen wird. Aber von wem? Ist ein Verräter in der Karawane oder haben die Mönche aus dem nahen Gompa, die sich den chinesischen Besatzern in heuchlerischer Weise unterworfen haben, ihre Finger im Spiel? Oder ist es gar eine Einheit des chinesischen Militärs, deren Chef das Auge jahrelang als Briefbeschwerer diente?
In den Bergen trifft Shan mit seinen Gefährten auf Widerstandskämpfer und Leute, die von dem Ölprojekt aus dem Tal vertrieben wurden. Sie künden von der Rückkehr eines alten Lamas, die kurz bevorstehe und das Tal retten werde. Und als sich die Karawane trennen muss, gerät das kleine Mädchen, das mit ihren Orakelsprüchen das Schicksal der gesamten Gruppe voraus gesehen hatte, in größte Gefahr.
Übertrifft in zwei Punkten die beiden Vorgängerromane
Nach zwei fesselnden Romanen um den ehemaligen chinesischen Staatsbeamten Shan, der einem tibetischen Arbeitslager entkommt und fortan seinen neuen Freunden bei der Auflösung von äußerst eigenwilligen Rätseln und Missionen hilft, legt Elliot Pattison einen dritten Roman vor, der seine beiden Vorgänger in punkto buddhistischer Traditionen und Mystik noch bei weitem übertrifft. Das beginnt bereits im ersten Kapitel, dass haarklein Shan und die Mönche beim anfertigen eines Mudras, eines kunstvollen Bildnisses aus verschiedenfarbigem Sand, beschreibt, wofür der Sand sogar aus zugefrorenen Gebirgsbächen besorgt werden muss. Das setzt sich fort über die Beschreibung von Klöstern, Höhlen und Bergpässen, von Gebeten und Ritualen.
Was dabei leider auf der Strecke bleibt, ist die Spannung. Oft wirkt die Handlung zu konstruiert und dem Aufbau von atmosphärischer Stimmung unterworfen. Der Autor ist ein Meister darin, den Tibet in all seinen Facetten und Nuancen zu beschreiben. Gerade im Mittelteil drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass es dem Autor wichtiger war, an welchem Ort eine Szene spielt, als welchen Inhalt sie bietet. Vielleicht liegt das Problem darin, dass Shan eine zunächst ungewohnte Rolle erfüllen muss. Im ersten Teil ist er nämlich der Gejagte und kann sich nicht um die Ermittlung der Todesumstände des jungen Mönchs kümmern. Leider hat er keine genaue Ahnung, wer sich alles an die Fersen der Karawane gehaftet hat und steht relativ unbeholfen da, als ihm das Auge entrissen wird. Erst langsam kann er die gewohnte Rolle des Jägers übernehmen.
Sehr hohe Messlatte, deswegen nur leidlich spannend
Die Messlatte hatte Pattison mit den ersten beiden Romanen sehr hoch gelegt. "Der fremde Tibeter" und "Das Auge von Tibet" konnten neben einzigartiger Schauplätze und Atmosphäre auch mit der interessanten Aufklärung von ungewöhnlich motivierten Verbrechen aufwarten. Mit letzterem kann "Das tibetische Orakel" nicht im gewohnten Maße dienen. Der Autor kompensiert dies mit der Darstellung von Missverhältnissen in der chinesisch-tibetischen Gesellschaft, dem Werteverlust durch die freiwillige Unterwerfung eines buddhistischen Klosters unter kommunistische Leitbilder und dem Amtsmissbrauch chinesischer Beamter fern der Hauptstadt Peking. Aber wie schon oben erwähnt, das Spannungsniveau seiner Vorgänger erreicht "Das tibetische Orakel" bei weitem nicht.
Eliot Pattison, Rütten und Loening
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