Der Meisterdieb

  • Goldmann
  • Erschienen: April 2024
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2025

Er musste es haben!

Sie stammen aus einem kleinen Ort im französischen Elsass und gehörten zu den erfolgreichsten Dieben wertvoller Antiquitäten und Museumsstücke: Stéphane Breitwieser und Anne-Catherine Kleinklaus plünderten zwischen 1994 und 2001 Museen in Mitteleuropa und rafften mehrere hundert der dort angebotenen oder ausgestellten Objekte an sich - Gemälde, Kunstwerke aus Silber oder Elfenbein, seltene Keramiken, Waffen, Medaillen, Waffen, Napoleons Tabaksdose ...

Aus dem Rahmen fallen diese Raubzüge, weil nicht finanzielle Motive sie auslösten. Breitwieser, die treibende Kraft, war besessen von schöner Kunst vor allem des 16. bis 18. Jahrhunderts. Ihm war es nicht genug, sie im Museum und hinter Glas zu bewundern. Er wollte sie in den eigenen Händen halten und anschauen, wann immer ihm danach war. Deshalb landeten die gestohlenen Meisterwerke nicht auf dem Schwarzmarkt, sondern im ausgebauten Dachgeschoss des Vorstadthauses, das er mit seiner Mutter bewohnte.

Das Diebes-Duo profitierte von der unzureichenden Bewachung und Sicherung selbst kostbarer Objekte. Vor allem in kleinen Museen, in denen der Budgetrahmen eng ist, gibt man das Geld lieber für Neuerwerbungen als für Wächter oder knackfeste Vitrinen aus. Breitwieser entwickelte sich zu einem gewieften Dieb. Wo die wenigen Kameras standen, prägte er sich gut ein. Auch die Dienstpläne der Wachen waren ihm bekannt. Das Duo brach niemals ein oder wurde jemals gewalttätig, sondern schlug während der offiziellen Öffnungszeiten der Hausherren zu. Anne-Catherine stand Schmiere, Stéphane hebelte oder schraubte Vitrinen auf, griff sich freistehende Objekte, entfernte Gemälde aus ihren Rahmen oder nutzte anderweitig die Gunst der Sekunde. Gut gekleidet zog das Paar keine Aufmerksamkeit auf sich, während das Diebesgut unter weiten Mänteln oder in mitgebrachten Taschen und Rucksäcken verschwand. Ohne Eile entfernte man sich vom Tatort, wo der Verlust oft erst nach längerer Zeit bemerkt wurde.

Nicht wieder gutzumachender Schaden

Irgendwann ging Breitwieser zu weit; er stahl nicht mehr, sondern hortete, wurde unvorsichtig und 2001 endlich erwischt. Vor allem die Medien feierten. Da sich Museumskunst finanziell kaum beziffern lässt, weil oft Stücke ausgestellt sind, die nie in den Verkauf gelangen werden, konnte man in Fantasiezahlen schwelgen, die sich schließlich auf einen Gesamtwert von 1,4 bis 2 Milliarden Dollar einpendelten.

Der wahre Schaden entstand der Kunst und ihren Bewunderern, als Breitwiesers Mutter vom Treiben ihres Sohnes erfuhr (der inzwischen in Untersuchungshaft saß). In Panik räumte sie seine Schatzhöhle aus, warf die unersetzlichen Stücke entweder in einen nahen Kanal oder vernichtete sie, wenn sie brennbar waren. Auf diese Weise lösten sich u. a. Gemälde von Lucas Cranach d. J., Jan Brueghel d. Ä. oder François Bouchet in Rauch auf: Wo kein Diebesgut, da kein Verbrechen - ein fataler Irrtum!

Was im Wasser lag, konnte geborgen und restauriert werden. Doch dort fand sich längst nicht alles wieder. Über das tatsächliche Schicksal der verschwundenen Kunst ranken sich viele Legenden. Sogar Breitwieser weiß wohl nicht, was die Mutter - und Freundin Anne-Catherine? - wirklich getan haben. Museen, Burgen und Galerien trauern unersetzlichen Objekten nach, die Besucher nie wieder als Originale bewundern werden.

Im Bann der Kunst oder einfach kriminell?

Michael Finkel interessiert sich nicht als erster für Stéphane Breitwieser. Dieser hat schon vor vielen Jahren selbst eine (übertreibende bzw. die Wahrheit ‚interpretierende‘) Autobiografie verfasst, sich aber sonst aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Immer wieder ist er seit seiner Entlassung aus der Haft rückfällig geworden. Nach wie vor behauptet er, dem Lockruf der Kunst einfach nicht widerstehen zu können, aber inzwischen hat er auch mit Diebesgut gehandelt. Seine Worte muss man also vorsichtig gewichten, aber Breitwieser ist dennoch eine Persönlichkeit, die Rätsel aufgibt.

Es gibt viele unterschiedliche Meinungen über ihn und seine Taten: Ist er ein Verdammter, der dem „Stendhal-Syndrom“ erliegt, woraufhin sein Gehirn in einen Rausch gerät, der ihn zum Diebstahl buchstäblich zwingt? Oder ist er ein skrupelloser Krimineller, der sich eine romantische Legende entworfen hat, um die Schuld abzuwälzen? Oder ein die hörige Freundin, die absichtlich blinde und taube Mutter und arglose Freunde betrügender Soziopath? Oder ein weinerliches Würstchen und fauler Schmarotzer, der niemals erwachsen werden und Verantwortung übernehmen wollte und sich wie ein Kleinkind nahm, was ihm ins Auge stach?

Der Autor ist objektiv genug, um offen bleibende Fragen zu thematisieren. Man kann also zu einem anderen Schluss kommen als Finkel, der in Breitwieser eher den unglücklichen, weil in seiner Obsession gefangenen Menschen sieht. Demnach war (und ist) dieser ‚krank‘, zumal er letztlich aus seiner Sucht keine Befriedigung schöpfen konnte: Es waren niemals genug Kunstwerke, die sich schließlich auf dem Dachboden stapelten und dort verrotteten.

Eine doppelte Tragödie und offene Fragen

Hat es sich nicht nur die Justiz, sondern haben es auch die geschädigten Museen und Kunsthäuser einfach gemacht, indem sie Breitwiesers psychischen Zustand ignorierten und ihn wie einen ‚normalen‘ Kriminellen behandelten? Faktisch hat sich wenig geändert. Für die Sicherung ausgestellter Kunst gibt es weiterhin zu wenig Geld. Spektakuläre Raubzüge seit der Ära Breitwieser legten es schockierend offen. Wieder wurde viel über Verbesserung geredet, aber wenig getan. Obwohl die Diebesserie von 1994 bis 2001 recht lückenlos aufgeklärt werden konnte, bleiben auch hier Fragen. Sind die verschwunden gebliebenen Objekte (s. o.) wirklich zerstört?

Ist Finkel dem Menschen Breitwieser, zu dem er eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut hat, auf den Leim gegangen? Obwohl er sich als Opfer einer ihn nicht verstehenden Umwelt gibt, bleibt die Tatsache, dass Breitwieser seit 2006, als er aus dem Gefängnis kam, immer wieder Diebstähle begangen hat. Als Finkel sein Buch 2023 veröffentlichte, stand Breitwieser abermals und wegen einer ganzen Serie seiner üblichen Taten vor Gericht.

Finkel geht es vor allem um die Beteiligten und ihre Motive. Während Breitwieser sich seinen Fragen stellte, verweigerten seine Mutter und Anne-Catherine Kleinklaus jeglichen Kontakt. Damit fehlen O-Töne, denn Finkel muss auf die wenigen Aussagen beider Frauen zurückgreifen, die nur so viel zugaben, wie ihnen nachgewiesen werden konnte, und heute, Jahre später, kein Interesse mehr daran haben, die Vergangenheit aufzurühren. So hinterlässt die Lektüre uns Leser ein wenig unzufrieden. Die Fakten sind gut recherchiert, doch die ganze Wahrheit enthüllt sich nicht. Während Autor Finkel dies nicht anzukreiden ist, muss man seinen Stil kritisieren. „Der Meisterdieb“ liest sich oft eher wie ein Roman, ‚denkt‘ sich in seine ‚Figuren‘ hinein und gibt ihnen Emotionen vor, die auf Finkels Interpretation beruhen. Hier wäre weniger „True-Crime“-Schmalz und mehr Objektivität der Sache nützlicher gewesen.

Fazit

Spannend geschilderte, dazu auf das Wesentlich geraffte Schilderung eines schier unglaublichen, aber wahren Kriminalfalls. Gut recherchiert und durch Interviews von vielen Zeitzeugen untermauert, jedoch stilistisch der Romanfiktion zu nahe: dennoch eine lohnende Lektüre.

Der Meisterdieb

Michael Finkel, Goldmann

Der Meisterdieb

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