Mord in Dingley Dell
- DuMont
- Erschienen: September 2020
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Wenn Spione Weihnachten feiern.
Kaum 50 Kilometer von London entfernt und dennoch abgeschieden in typisch englischer, also trügerisch idyllischer Landschaft liegt Dingley Dell, ein Landsitz, der längst nicht mehr Sitz einer Adelsfamilie ist, sondern als luxuriöse Urlauberresidenz dient. Aktuell wird hier zu einem traditionellen Weihnachtsfest eingeladen, das ganz im Stil des viktorianischen Schriftstellers Charles Dickens stattfinden wird. Die Teilnehmer werden mit einer Kutsche vom Bahnhof abgeholt und müssen sich in historische Gewänder kleiden.
Eine bunte Gesellschaft versammelt sich am Heiligen Abend in Dingley Dell, während dichte Wolken am Himmel aufziehen. Kurz darauf beginnt es zu stürmen und zu schneien, und bald ist der Landsitz von der Außenwelt abgeschnitten. Die Entfernung zum nächsten Ort beträgt 15 Meilen, doch da man mit Lebensmitteln (und Alkohol) gut versorgt und warm untergebracht ist, bleibt die Stimmung (aus-) gelassen.
Allerdings ist die Veranstaltung eine Farce. Zwar gibt es einige ‚echte‘ Gäste, doch mehrheitlich gehören die Anwesenden diversen europäischen Geheimdiensten an. Gut abgeschirmt vom Rest der Welt will man über eine Allianz beraten, was vor allem jenseits des Eisernen Vorhangs für Unruhe sorgt. Die Isolation des Anwesens bietet den Sowjets die Chance, den Kapitalisten mörderisch in die Suppe zu spucken. Nach einem ersten Leichenfund versucht der überforderte ‚Gastgeber‘ die Situation zu klären. Doch der Gegner ist gut getarnt, weshalb sich Dingley Dell in ein Schlachtfeld zu verwandeln droht ...
Noch kein Meister, aber schon sehr gut
1972 stand Reginald Hill (1936-2012) noch am Beginn jener Schriftstellerkarriere, in deren Verlauf er sich zu einem der renommiertesten und bekanntesten Autor englischer Kriminalromane mauserte. Vor allem seine über vier Jahrzehnte laufende Serie um das ungleiche Ermittlerpaar Andrew Dalziel und Peter Pascoe sorgte für Kritikerlob und treue Leser. Hier brachte Hill sein Talent, den klassischen Krimi in die Neuzeit zu transferieren, zur Vollendung. „Mord in Dingley Dell“ ist demgegenüber eines seiner Frühwerke, die noch unter einem Pseudonym („Patrick Ruell“) erschienen. Hill arbeitete hauptberuflich als Lehrer und musste auf seinen Ruf achten, der darunter hätte leiden können, dass ein Pädagoge Unterhaltungsromane verfasste ...
In dieser Phase tastete sich Hill offenkundig noch an seine spätere Form heran. Zwar beeindrucken bereits der schwungvoll-elegante Stil und die gelungene Wiederbelebung jener Szenerie, für die der britische „Landhaus-Krimi“ berühmt wurde: Isoliert durch Lage und (schlechtes) Wetter steht ein großes Haus mit verwinkelten, notorisch schlecht beleuchteten und unübersichtlichen Räumen. Es wird bevölkert von einer nach Herkunft und Charakter gut gemischten Menschengruppe, unter denen sich ein Mörder (oder eine Mörderin) befindet. Die Schar der Verdächtigen ist dabei deckungsgleich mit den Anwesenden.
‚Gemütlich‘ ging es dort zu, wo große Meister/innen wie Agatha Christie, John Dickson Carr oder Edmund Crispin solche Verbrechen und ihre Aufklärung förmlich zelebrierten. Hill setzt noch eins drauf und lässt die Untat zur Weihnachtszeit stattfinden. Das Fest galt (und gilt) in England als ideale Gelegenheit, sich im Kreise übersättigter und angetrunkener Gäste Grusel- oder Mordgeschichten zu erzählen, um die festliche Gemütlichkeit zu unterstreichen (sowie von Langeweile und Verwandtschaftsstreit abzulenken).
Zwischen Hercule Poirot und James Bond
Doch Hill plante mehr als die reine Heraufbeschwörung alter bzw. traditioneller Rätselkrimi-Muster. Zwar gab es schon 1972 einen Markt für solche Krimis, die in einer angeblich ‚besseren‘, weil einfacher strukturierten und beschaulichen Vergangenheit spielten - und Agatha Christie war noch schriftstellerisch aktiv. Hill wagte ein Experiment: Er wollte den „Whodunit“ mit dem aktuellen Thriller der 1960er und 70er Jahre verknüpfen. Die James-Bond-Mania hatte ihren Höhepunkt erreicht; sie spiegelte eine Welt wider, in der sich die Supermächte USA und UdSSR in einem kalten Krieg gegenüberstanden, der jederzeit in ein atomares Inferno umschlagen konnte, und in der man einander mit mehr oder weniger ‚geheimen’ Agenten unterwanderte.
Hinzu kam (nicht nur) in England ein gesellschaftlicher Umbruch. Die „Swinging Sixties“ ließen die jüngere Generation politische, künstlerische und sexuelle Freiheiten erfahren, die Hill ebenfalls in seine ganz besondere Weihnachtsgeschichte einfließen lassen wollte. Heraus kam ein Garn, das seinen Originaltitel „Red Christmas“ jedenfalls zu Recht trägt: Maschinengewehre waren im Landhaus-Krimi zuvor nicht zum Einsatz gekommen, und die Zahl der Leichen erreicht ungewöhnliche Höhen. Dass dieser Roman hierzulande in einer Reihe „wohliger Weihnachtskrimis“ erscheint, kann durchaus für Stirnrunzeln sorgen. Zudem muss man feststellen, dass Krimi und Thriller nicht harmonisch zueinanderfinden.
Bis sich Dingley Dell als Schlupfwinkel für (nicht gerade) heimlich konspirierende Geheimagenten entpuppt, beschwört Hill den „Cozy“-Faktor wunderbar herauf. Er stellt uns wie oben angemerkt eine pittoresk übertrieben gezeichnete Gruppe vor, deren Mitglieder sich bereits vor dem ersten Mord verdächtig benehmen. Die Hauptfiguren kristallisieren sich heraus; es handelt sich um einen etwas angestaubten, aber liebenswerten, tatkräftigen Akademiker und - ganz im Stil der ‚neuen Zeit‘ - um eine junge, schöne und trotz (oder wegen) ihrer kühlen Überlegenheit einem Flirt keineswegs abholde Frau, die immer wieder leicht bekleidet in krisenhafte Situationen, aber dadurch nicht aus der Fassung gerät. Noch ist keine Rede von „#MeToo“, was hier für eine ganz eigene Art von Nostalgie sorgt, die der unrund laufenden Story einen gewissen Ausgleich verschafft.
Fazit
Leidlich gelungener, aber elegant geschriebener Versuch, den klassischen englischen Rätselkrimi mit dem (damals) modernen Thriller zu verbinden: Dank des talentierten Verfassers dennoch vor allem in den ‚gemütlichen‘ Passagen unterhaltsam.
Reginald Hill, DuMont
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