Das Nachthaus
- Ullstein
- Erschienen: Oktober 2023
- 10
Jo Nesbø beweist, dass er ein großartiger Geschichtenerzähler ist
Aus lauter Langeweile und Frust zwingt der 14-jährige Richard seinen Freund Tom, einen Telefonstreich zu spielen. Wahllos suchen sie in einer abgelegenen Telefonzelle eine Nummer aus und drohen der Person am Ende der Leitung, dass sie der Teufel hole. Was dann passiert, wird Richard nie vergessen: Tom wird vom Telefonhörer nach und nach aufgesaugt und regelrecht gefressen. Später auf der Polizeiwache der amerikanischen Kleinstadt Ballantyne will ihm aber niemand diese seltsame Geschichte glauben. Der Polizeichef vermutet, dass Richard seinen Freund im Wald von einer Brücke in den reißenden Fluss gestoßen hat. Der Teenager wehrt sich gegen die Anschuldigungen, doch er verstrickt sich dabei in Lügen. Als er feststellt, dass die Telefonnummer, die sie angerufen haben, anscheinend gar nicht existiert, zweifelt der Junge selber an seinem Verstand. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach der tatsächlichen Ursache für Toms Verschwinden zu machen. Gemeinsam mit seinem Schulkameraden Fatso macht er sich auf den Weg in den Spiegelwald und stößt dort auf das mysteriöse „Nachthaus“. Hat hier alles seinen Anfang genommen?
Nesbø einmal anders
Über Autor Jo Nesbø muss man nicht mehr viele Worte verlieren. Der Norweger gehört zu den meistverkauften Krimiautoren der Welt, seine Bücher werden in 50 Sprachen veröffentlicht und weltweit millionenfach verkauft. Bekanntheit erlangte er vor allem durch seine Romane um den eigenwilligen Ermittler Harry Hole vom Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen. Daneben hat Jo Nesbø weitere Thriller wie „Headhunter“, „Der Sohn“ oder die zweiteilige Reihe „Blood on Snow“ geschrieben. Was viele nicht wissen: Der Norweger ist auch ein erfolgreicher Kinderbuchautor.
Nun erscheint mit „Das Nachthaus“ im Ullstein Verlag ein ebenso ungewöhnlicher wie bemerkenswerter Mysterythriller, der in seiner Schreibweise an die Romane Stephen Kings erinnert. Nesbøs Roman enthält tatsächlich zahlreiche Reminiszenzen an dessen Werke. Auch beim Norweger findet der übernatürliche Schrecken im Alltag einer amerikanischen Kleinstadt statt. Auch im Hinblick auf Erzählweise und Figurenauswahl gibt es Parallelen zum amerikanischen Bestsellerautor. Und dennoch: Nesbø schafft hier ein ganz eigenständiges Werk, das sich gängigen Genrezuweisungen entzieht. Ihm geht es auch weniger darum, eine reine Horrorgeschichte zu schreiben. Vielmehr spielt er mit verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen und beweist psychologisches Feingefühl. Was dabei herauskommt, ist ein großartiger Roman, der den Leser immer wieder in die Irre führt.
Mystery und Freundschaft
„Das Nachthaus“ ist die Geschichte eines traumatisierten Jungen, dem das Schicksal alles genommen hat und der seinen Weg zurück ins Leben sucht. Der Roman besteht aus drei Geschichten, die aufeinander aufbauen und gleichzeitig die Handlung auf den Kopf stellen. Gerade dies macht den besonderen Reiz vom „Nachthaus“ aus. Der erste Teil erinnert in seiner Atmosphäre etwas an die Erzählung „Die Leiche“ von Stephen King (verfilmt unter dem Titel: „Stand by Me - Das Geheimnis eines Sommers“). Mit Richard steht ein Junge im Mittelpunkt, der seine Eltern bei einem Brand verloren hat und seitdem bei seinen Adoptiveltern lebt. Richard überredet seinen Klassenkameraden Jack, den alle wegen seines Aussehens nur Fatso nennen und der eher als Waschlappen verschrien ist, weil er sich für Mädchensachen interessiert, gemeinsam herauszufinden, was mit Tom wirklich geschehen ist und was im unheimlichen „Nachthaus“ vor sich geht. Doch als auch Fatso plötzlich verschwindet, ist der ohnehin schon einsame Richard beinahe ganz auf sich allein gestellt. Die Einzige, die ihm noch glaubt, ist Karen - das rebellische und beliebte Mädchen in seiner Klasse, in das er heimlich verliebt ist. Doch auch sie bringt Richard ungewollt in große Gefahr.
Spannung bis zum Schluss
Wer nun glaubt, dass er es hier mit einem Jugendbuch zu tun hat, der irrt gewaltig. Denn der zweite und dritte Teil des Romans bieten einen ganz anderen Blickwinkel auf das Geschehen. Mehr darf an dieser Stelle nicht verraten werden. Nur so viel: Man sollte von Beginn an sehr aufmerksam lesen, denn der Autor verwendet Namen, Orte und Ereignisse in den drei Romanteilen in unterschiedlichen Kontexten und Zusammenhängen. So setzt sich die wahre Geschichte des Richard Elauved nach und nach wie ein Puzzle zusammen. Das Besondere an diesem Roman ist das Spiel Nebøs mit Schein und Sein, der Wechsel zwischen Realität und Fantasie. Besonders die letzte Teilgeschichte bewegt zutiefst und besonders hier zeigt sich die Klasse eines Jo Nesbøs. Ein Roman mit einem großen Gespür für die Gefühle seiner Figuren.
„Das Nachthaus“ schreit aufgrund seiner Bildgewalt und dem ungemein cleveren Plot regelrecht nach einer Verfilmung. Ein mehr als wendungsreiches Lesevergnügen, das den Leser ins Staunen versetzten wird.
Fazit
Nesbøs ist ein wahrer Meister der Spannung. Gleichzeitig erfindet er sich mit seinem aktuellen Roman in gewisser Weise auch neu. Selten war ein Roman von ihm derart komplex und gleichzeitig flüssig und kurzweilig geschrieben. Nesbø beweist, dass er nicht nur ein herausragender Thrillerautor, sondern auch ein überragender Geschichtenerzähler ist.
Jo Nesbø, Ullstein
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