A Haunting in Venice
- Atlantik
- Erschienen: September 2023
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Sie hätte besser den Mund gehalten
Wieder einmal wird Ariadne Oliver, die berühmte Autorin viel gelesener Kriminalromane, in einen Mordfall verwickelt. Sie besucht eine Freundin in Woodleigh Common, einem Dorf unweit von London. Dort muss sie zu ihrem Missfallen an einer Halloweenparty für Kinder teilnehmen; Rowena Drake richtet sie aus, und der dominanten Witwe beugt sich die lokale Gesellschaft gewohnheitsbedingt bereitwillig.
Das Fest ist gut besucht und erfolgreich, bis man in der Bibliothek die Leiche der 13-jährigen Joyce Reynolds entdeckt: Jemand hat sie in einer zuvor für ein Partyspiel mit Wasser gefüllten Wanne ertränkt. Die Aufregung ist groß, man vermutet das Eindringen eines irren Gelegenheitsmörders und weiß doch zu gut, dass eine/r der Anwesenden die Tat begangen haben muss.
Ariadne Oliver geht nicht aus dem Kopf, dass Joyce kurz vor ihrem Ende behauptet hatte, einst einen Mord beobachtet zu haben. Niemand wollte ihr, die für ihre Lügenmärchen berüchtigt ist, glauben, doch offenbar gab es eine Ausnahme. Oliver will die Sache nicht auf sich beruhen oder der Polizei überlassen. Sie besucht in London einen alten Freund, den Privatdetektiv Hercule Poirot.
Dieser fühlt sich wie so oft von dem faktisch substanzlosen ‚Fall‘ magisch angezogen. Poirot reist nach Woodleigh Common, wo er nicht nur den Teilnehmern der Party, sondern auch weiteren Bewohnern des Ortes oft unverständliche Fragen stellt, die sich um halb vergessene Tragödien der Vergangenheit drehen. Dass Poirot wieder einmal an den richtigen Fäden zieht, stellt sich spätestens heraus, als ein zweiter Mord geschieht ...
Man kann den Tag, aber auch den Abend loben
Es gibt deprimierend wenig, das durch Alter gewinnt. „Reife“ ist ein Prädikat, das man vor allem mit Wein verbindet. Schriftsteller sind als Menschen dem normalen Abbauprozess unterworfen, der das Hirn nur selten verschont. Das sogenannte „Alterswerk“ vieler Autoren wird deshalb begleitet von einer Kritik, die dies einerseits berücksichtigt, daraus resultierende Mankos aber dennoch anprangert.
So erging es auch Agatha Christie und hier ihrem 60. Kriminalroman, den sie 1969 im Alter von fast 80 Jahren veröffentlichte. Ein schwacher Plot und Figurenzeichnungen, in denen sich hilflos eine Gegenwart widerspiegele, die der Autorin fremd und unheimlich sei, wurden als Einwände genannt. In der Rückschau muss man dem widersprechen; tatsächlich fügt sich „Hallowe’en Party“ harmonisch in Christies Krimi-Werk ein.
Zum 31. Mal ermittelt Hercule Poirot, der sich ein wenig altersschwach gibt, aber geistig durchaus auf der Höhe ist! Mehrfach wundern sich vor allem jüngere Polizeibeamte, dass Poirot noch lebt; mindestens melden sie Zweifel an seinen intellektuellen Fähigkeiten an. Vor allem längst pensionierte Ordnungshüter setzen sich für den Detektiv ein, der final selbstverständlich unter Beweis stellt, dass die „kleinen, grauen Zellen“ weiterhin ausgezeichnet funktionieren.
Die Welt hat sich (über-) dreht
Christie hat nach 1970 nachweislich geistig abgebaut. Doch „Hallowe’en Party“ fällt noch nicht in diese Phase. (Der Roman wird unter seinem Originaltitel zitiert. Es gibt eine deutsche Ausgabe, die den korrekten Titel „Die Halloween-Party“ trägt, doch hier wird eine aktuelle Sonderausgabe zum Kinofilm „A Haunting in Venice“ rezensiert, der das Romangeschehen - s. u. - nur bedingt aufgreift.) Was einst anachronistisch gewirkt haben mag, wurde von der Zeit eingeebnet.
Die Autorin war ein Vollprofi und auch im hohen Alter nicht gewillt, die Gegenwart auszuklammern (Der Spionage-Thriller „Passenger to Frankfurt“/„Passagier nach Frankfurt“ von 1970 belegt es). Heutzutage werden „englische Landhauskrimis“ ausdrücklich damit beworben, dass sie die hässlichen Aspekte des Alltags ausblenden und sich „à la Agatha Christie“ auf den „Mord als schöne Kunst“ (Thomas de Quincey) konzentrieren. Doch die Autorin hat die Gegenwart nie gemieden, sondern sie ökonomisch in ihre Krimis einfließen lassen. Dies ist auch ein Grund für die Präsenz ihres Werkes: Wo moderne Autoren mehr und mehr Non-Krimi-Elemente einfließen lassen, um ihren Geschichten ‚literarische Relevanz‘ und ‚menschliche Tiefe“ zu verleihen, blieb Christie dem Plot verpflichtet. Ihm ordnete sie den Alltag unter bzw. bezog ihn ein, wo er das beschriebene Verbrechen betraf.
Gewisse Spitzen konnte und wollte sich die selbstbewusste Autorin nicht verkneifen. Mit den „Swinging Sixties“ hatte sie ihre Probleme, die jedoch nicht aus der Weltfremde einer viktorianisch geprägten Frau erwuchsen. Christie ist ihren Weg selbstbestimmt gegangen. Sie hatte eine Meinung, mit der sie nicht hinter dem Berg hielt, ohne daraus eine Religion zu machen. Die Jugend ist ihr 1969 fremd geworden. Freilich vergessen Kritiker offenbar, dass Christie - auch in „Hallowe’en Party“ - die Vergangenheit und ihre grau gewordenen Protagonisten keineswegs schont.
Es ist, wie es ist
Im Drake-Haus wird keineswegs ‚schön‘ gemordet. Ähnlich wie Alfred Hitchcock, der 1973 mit seinem Film „Frenzy“ bewies, dass auch ein alter Hund neue Tricks lernen kann, hat Christie kein Problem damit, sich die Schreibfinger schmutzig zu machen: Umgebracht wird ein Kind, und es wird grausam ertränkt. Das Verbrechen hat die Komfortzone verlassen.
Christie geht noch einen Schritt weiter: Zu Tode kam zwar ein Kind, kein Engel auf Erden, sondern ein zu Recht unbeliebtes, dummes Mädchen, das nicht begreifen konnte oder wollte, dass man unentdeckt gebliebene Mörder nicht aufschrecken sollte. Die nüchterne Betrachtungsweise lebt fort bis in ein Finale, in der Christie eine ebenso bizarre wie schmutzige Vorgeschichte enthüllt (und nun doch ein wenig überzieht).
Zumindest Poirot ist nicht überrascht. Viele Jahre einer erfolgreichen Ermittlertätigkeit haben ihn immun gegen Vorurteile gemacht. Jeder Mensch kann zum Mörder werden. Die Suche nach Ursache und Wirkung stellt Christie routiniert als scheinbar planlose Exkursion des alten Detektivs dar, der immer wieder Steine in ruhige Gewässer wirft und wartet, was er auf diese Weise aufstört. Die Wahrheit liegt eben doch nicht immer in der simpel-direkten Erklärung (was Sherlock Holmes’ Credo war), wie Poirot im Großen Finale (und in Anwesenheit des noch nicht enthüllten Täters) erläutert. Dies geschieht mit der Christie-üblichen Präzision, weshalb der Roman-Poirot seinen Fall deutlich zufriedenstellender als im 2023 entstandenen Film abschließt.
„A Haunting in Venice“ in Film und Fernsehen
Erwartungsgemäß klärt Poirot in der legendären britischen TV-Serie „Agatha Christie’s Poirot“ auch diesen Fall. In Staffel 12, (Lang-) Folge 63, verkörperte David Suchet 2010 den Meisterdetektiv mit der üblichen Überzeugungskraft.
Eine interessante, aber auch zweifelhafte Interpretation erfuhr der Roman 2022. Zum dritten Mal (nach „Tod auf dem Nil“ und „Mord im Orient-Express“) verkörperte Kenneth Branagh nicht nur Hercule Poirot, sondern führte auch Regie. Drehbuchautor Michael Kenneth übernahm von der Vorlage nur die Figuren sowie das Mordrätsel. Ansonsten verlagerte er das Geschehen in die Lagunenstadt Venedig und gab dem Geschehen eine übernatürliche Note, was durch die Kamera unterstützt wurde.
Das Ergebnis sorgte nur bedingt für Begeisterung. Poirot ist kein Ghostbuster, weshalb sich der Großteils des Spuks final als Menschenwerk herausstellt. Weil das Budget niedrig war (und dies durchaus sichtbar wird), spielte „A Haunting in Venice“ seine Kosten immerhin ein.
Fazit
Dieser ‚späte‘ Poirot-Roman lässt den Detektiv noch einmal zur bekannten Hochform auflaufen. Die zeitgenössische Gegenwart fließt maßvoll ein, diverse (Insider-) Gags sowie Reminiszenzen an frühere Krimis runden das zeitlose Lektürevergnügen ab.
Agatha Christie, Atlantik
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